Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achtzehnter Jahrgang. 1902. (43)

354 Nebersicht der politischen Gutwichelunz des Jahres 1902. 
zuführen, fast in Erfüllung ging. Indessen waren die Belegschaften 
der einzelnen Distrikte nicht einig, und es gelang der Vermittlung 
des Ministerpräsidenten, nach einigen Wochen mit geringen Kon- 
zessionen den Ausstand zu beenden. Ein anderer großer Streik, 
der Ausstand der Seeleute in Marseille, ging noch schneller zu 
Ende. Die eingeschriebenen Seeleute (d. h. die Küstenbevölkerung, 
die zum Marinedienst vorgemerkt ist oder nach abgelaufener Dienst- 
zeit dem Beurlaubtenstande angehört und größtenteils im Hafen- 
oder Handelsdienst tätig ist) legten in Marseille die Arbeit nieder, 
um eine kürzere Arbeitszeit und Erhöhung des Lohnes zu erzwingen. 
Sie suchten einen Generalstreik in Marseille zu inscenieren, aber 
als er mißlang, ließen sie schnell den Mut sinken. Einige Unruhen 
fanden zwar statt, aber der Verhaftung ihrer Hauptführer setzten 
sie keinen Widerstand entgegen, und als sie von der Regierung das 
Versprechen erhielten, eine neue Seemannsordnung einbringen zu 
wollen, nahmen sie die Arbeit wieder auf. 
In der auswärtigen Politik hat Frankreich seine Bundes- 
genossenschaft mit Rußland durch die gemeinsame Erklärung über 
OÖstasien und durch die Reise des Präsidenten Loubet nach Peters- 
burg abermals betont; im übrigen wechseln feindselige Kund- 
gebungen gegen Deutschland und England miteinander ab. Den 
Revanchereden der André und Pelletan (S. 224) stehen die Reden 
von Jaures und seinen sozialistischen Gesinnungsgenossen gegen- 
über, die einen Krieg um Elsaß-Lothringen für aussichtslos und 
verbrecherisch erklären. Dazu lassen sich auch von konservativer 
Seite gelegentlich Stimmen vernehmen, die kolonialpolitischer Pläne 
wegen ein Zusammengehen mit Deutschland gegen England em- 
pfehlen und um dieses Bundes willen selbst eine Vergrößerung 
Deutschlands dulden wollen. In der utopischen Annahme eines 
bevorstehenden Zerfalles der habsburgischen Monarchie empfehlen 
sie Annexion österreichischer Provinzen durch Deutschland, ja sie 
sehen hierin vom konservativ-katholischen Standpunkt ein will- 
kommenes Ereignis: „Nicht am Rheine, sondern am Niger und 
am Mekong ist fortan die künftige Größe Frankreichs und das 
Geheimnis seiner Macht zu suchen. Von einer Vergrößerung 
Deutschlands nach Österreich hin würde Frankreich nichts zu be-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.