Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achtzehnter Jahrgang. 1902. (43)

Nebersicht der politischen Entwickelung des Jahres 1902. 355 
fürchten haben, selbst wenn sich dieselbe bis an das Adriatische 
Meer ausdehnen sollte. Es wäre im Gegenteil vorteilhaft, wenn 
innerhalb Deutschlands die bayerisch-katholische Gruppe so weit 
verstärkt würde, daß sie der preußisch-protestantischen Gruppe das 
Gleichgewicht zu halten vermöchte. Deutschland würde dann auch 
weniger geneigt sein, die Unabhängigkeit von Belgien und Holland 
anzutasten, an der Frankreich sehr viel gelegen sein muß. Wenn 
Deutschland ferner direkten Zutritt zum Mittelmeer hat, so könnte 
das dem englischen Einfluß Abbruch tun, und das würde allen 
übrigen Mittelmeermächten, also auch Frankreich, zu statten 
kommen.“ (P. de Coubertin im „Figaro“.) Indessen sind solche 
Außerungen relativer Objektivität gegen Deutschland stets nur 
Ausnahmen innerhalb der öffentlichen Meinung. — In der Ko- 
lonialpolitik hat Frankreich seinen Einfluß im Hinterlande von 
Tunis und Algier verstärkt und einen Vertrag mit Siam ab- 
geschlossen, der freilich im Parlament auf Widerstand gestoßen und 
darum noch nicht ratifiziert worden ist. 
Die innere Geschichte Italiens zeigte eine große Anzahl 
Unruhen und Streiks, deren bedeutendster, der Ausstand der Eisen- 
bahnangestellten, freilich von der Regierung mit großer Energie 
niedergeworfen worden ist. Ihre sozialen Versprechungen des letzten 
Jahres hat die Regierung mit einem Gesetz über die Beschränkung 
der Frauen= und Kinderarbeit in der Industrie einzulösen be- 
gonnen; dann hat gegen Schluß des Jahres der Ministerpräsident 
ein neues Programm verkündet, das hinausläuft auf Herabsetzung 
des Salzpreises, Verringerung der Bodensteuer, Förderung der 
Kredite für agrarische und industrielle Unternehmungen, Vermin- 
derung der Steuern auf Arbeitslöhne und Gehälter. An parla- 
mentarischen Schwierigkeiten wird es dagegen nicht fehlen; die 
Majorität im Senat ist gering, und eine gelegentliche Außerung 
des Ministerpräsidenten, daß der Streik kein Verbrechen sondern 
ein erlaubtes Kampfmittel sei, ist heftig angegriffen worden. — 
Ein weiterer legislatorischer Versuch, dessen Erfolg höchst proble- 
matisch ist, ist die Vorlage über die Ehescheidung. Eine Massen- 
petition hat sich dagegen erklärt, was beweist, daß der Klerikalis= 
mus wie in Frankreich noch eine große Macht besitzt und den im 
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