358 Nebersicht der politischen Eutwickelung des Jahres 1902.
Nachdruck auf die Grenzbefestigung gegen Rußland als gegen
Schweden zu legen.
Schon seit mehreren Jahren haben wir auf die bedenkliche
Situation im inneren Rußland hingewiesen. Die Unruhen, die
wir schon früher zu verzeichnen hatten, sind im letzten Jahre mit
verstärkter Heftigkeit wieder ausgebrochen: Revolten der Bauern,
Studenten und Industriearbeiter haben wochenlang in mehreren
Gouvernements getobt und die Aufbietung großer Militärmacht
erfordert. Daß mit diesen Tumulten Anarchisten und andere un-
saubere Elemente in Verbindung standen, ist selbstverständlich, aber
das sind nur unwesentliche Begleiterscheinungen, die durch das
Ungeschick und die Brutalität einzelner Beamten hervorgerufen
werden: die letzte Ursache ist die materielle Not und die Un-
zufriedenheit mit dem herrschenden bureaukratischen System. Ein
Mittel, diese Übelstände zu heben, ist noch nicht ausfindig gemacht
worden; der erste ernstliche Versuch hat nur bewiesen, daß sich in
der Regierung zwei Strömungen bekämpfen, und daß der Zar
offenbar nicht der Mann ist, sie zu leiten und zu einigen. Als
Urgrund der Notlage wurde die Krisis der Landwirtschaft an-
gesehen: um ihr zu Hilfe zu kommen, wurden auf keaiserlichen
Befehl in den Gouvernements Kommissionen zur Untersuchung der
Lage eingesetzt. Dabei wollte man aber vermeiden, dem in den
oberen Klassen bestehenden Streben nach parlamentarischen Regie-
rungsformen Vorschub zu leisten; infolgedessen wurden zu Mit-
gliedern dieser Kommissionen nicht die Semstwos, die Landschafts-
vertretungen berufen, sondern größtenteils Männer aus der Bureau-
kratie, die von der Regierung abhängen und den Interessen der
Landwirtschaft vielfach fernstehen, während die Semstwos die be-
rufenen Vertreter der Landwirtschaft sind und seit Jahren umfang-
reiche statistische Materialien für ihre Distrikte gesammelt haben.
Natürlich erregte das in den beteiligten Kreisen tiefe Unzufrieden-
heit, und es hat nicht an Protesten der Semstwos an die Minister
gefehlt. Ein weiterer Grund zur Unzufriedenheit war, daß in den
Kommissionen nicht etwa Diskussionsfreiheit nach parlamentarischem
Brauch gewährt wurde, sondern daß der Minister des Innern
v. Plehwe jede Erörterung „allgemeiner Fragen“ untersagte, und