Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunzehnter Jahrgang. 1903. (44)

Vas Veuische Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 3./6.) 101 
ermüdet, weil die Tonlage eines Männerchors immerhin beschränkt ist und 
auf die Dauer zu gleichmäßig wirkt. Ich warne auch davor, nicht zu 
lyrisch zu werden. Ich glaube, daß auch im Preischor die Lyrik zu sehr 
vorwaltet. Die Herren werden gemerkt haben, daß die Chöre, die etwas 
mehr Energisches und Männliches zeigten, beim Publikum mehr Beifall 
gefunden haben. Die Sentimentalität, die in jeder deutschen Seele ruht, 
soll in poetischen Schöpfungen auch zum Ausdruck kommen, aber da, wo 
es sich um Balladen und Mannestaten handelt, muß der Männerchor 
energisch zur Geltung kommen, am besten in einfachen Kompositionen. Es 
wird vielleicht den Herren interessant sein, daß fast zwei Drittel aller 
Vereine zu hoch eingesetzt und zum Teil um einen halben, Dreiviertel-, 
einen, sogar um einen Fünfviertel-Ton zu hoch geschlossen haben. Des- 
halb haben ihnen die gewählten Aufgaben zum Teil selber geschadet. Es 
war eine Freude, wenn einmal ein Verein so tief einsetzte, daß man das 
Gefühl hatte, er hat noch Reserve übrig. Die Wahl der Chöre werde Ich 
in Zukunft dadurch entsprechender zu gestalten versuchen, daß Ich eine 
Sammlung veranstalten werde sämtlicher Volkslieder, die in Deutschland, 
Oesterreich und der Schweiz geschrieben, gesungen und bekannt sind, gleich- 
gültig ob der Komponist bekannt ist oder nicht. Sie wird katalogisiert 
werden und Ich werde dafür Sorge tragen, daß sie allen Vereinen billig 
und einfach zugänglich sein kann. Dann werden wir in der Lage sein, 
aus diesem Kreise Lieder zu suchen, die wir brauchen. Wir sind hier am 
Rhein, und nicht ein einziger Verein hat die „Drei Burschen“ gesungen 
oder „Joachim Hans von Zieten“ und „Friedericus Rex“. Wir sind hier 
in Frankfurt, und kein einziger hat Kalliwoda gewählt. Wir haben Men- 
delssohn, Beethoven, Abt: von ihnen ist nichts erklungen. Hiermit ist 
nun wohl der modernen Komposition genug getan. Sie haben sich Auf- 
gaben gestellt — Ich nehme auch das Preislied nicht aus. Ich selbst 
halte es an einzelnen Stellen für viel zu schwer; Ich habe Gelegenheit ge- 
nommen, mit den Preisrichtern darüber zu sprechen. Die Herren haben 
ihren Gedankenaustausch in einem Promemoria zu Papier gebracht, das 
den Vereinen zugänglich gemacht werden wird. Mein Kabinettsrat v. Lu- 
canus wird es den Herren vorlesen. 
Kabinettsrat v. Lucanus verliest hierauf folgendes Aktenstück: „Der 
Eindruck, den das Wettsingen des ersten Tages auf das Preisrichterkolle- 
gium ausübte, war derart, daß es für notwendig erachtet wurde, eine 
bestimmte Stellung zu der Art der Komposition zu nehmen, die heute auf 
dem Gebiete des Männergesanges als herrschende gilt; fast sämtliche von 
den Vereinen vorgetragenen frei gewählten Chöre zeigten eine Art des 
technischen Baues, die den a Capella-Stil des Männergesanges vollständig 
verkennt, indem sie den Stimmen Intervalle, Lagen und harmonische Kom- 
binationen rein instrumentaler Natur zumutet. Schlimmer noch ist das 
vollständige Mißverständnis zwischen dem darzustellenden Vorwurf und den 
aufgewandten Mitteln. Die enge Begrenzung der Stimmen, die unge- 
straft ihre Grenze nicht überschreiten darf, die beschränkte Farbenpalette 
machen die Männerchöre von selbst zum Träger edler, schlichter Stimmung 
lyrischer Art und selbst einfacher Balladen. Die gesuchte, gekünstelte Art, 
wie sie in einer Reihe der gehörten Chöre sich zeigte, die Manie, jede 
noch so unbedeutende Gelegenheit zu Tonmalerei auszunutzen, das Haschen 
nach außergewöhnlicher Harmonie erschien uns geradezu als eine krank- 
hafte, effekthascherische Art der Komposition, die infolge dieser Anlage an 
Stelle großzügiger Einheit eine Mosaik von oft interessanten, fast nie aber 
schönen Details bildet. Ein solches die Hauptbedingungen eines Kunst- 
werkes verachtendes Gebaren aber bildet eine ernste Gefahr für die Zu-
	        
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