Das Vesche Reich und seine einjelnen GSlieder. (Juni.) 107
Juni. Die Presse über die Wahlen. Stichwahlparolen.
In erster Linie wird allgemein das Anwachsen der sozialdemokra-
tischen Stimmen besprochen besprochen. Der „Vorwärts“ schreibt: „Berlin-
Deutschland hat das Tischtuch mit der Reaktion aller Farben endgültig
zerschnitten; es ist die Hauptstadt der Sozialdemokratie geworden. Eine
Siegesnachricht drängt die andere; nur ganz vereinzelt kommen Meldungen,
die geringere Fortschritte zeigen. Rückschritte nirgends. Auch in rein
agrarische Verhältnisse, wie Altenburg, sind wir siegreich eingedrungen.
Das deutsche Volk hat in den Wahlen den gewaltigsten Protest gegen die
herrschende Reaktion abgegeben. Mit Donnerstimme reden die Zahlen
der Stimmen. Der Brotwucher ist gerichtet, und alles, was um ihn
sich drängt. Die Wahlen sind ein zerschmetternder Schlag für das ganze
herrschende System. Wenn die Nacht vollendet, was bis Mitternacht be-
gonnen, dann bereitet sich eine Weltwende der deutschen Politik vor.
Deutschland wird zum Lande des Sozialismus, dem unüberwindlich vor-
wärts drängenden, dem Befreier und Erlöser. Der Sieg des deutschen
Prosetariats ist der Sieg der deutschen Kultur. Unser das Reich — unser
ie Welt!“
Die bürgerlichen Parteiblätter suchen die Ursachen dieser Stimmen-
zunahme zu erklären. Die freis. „Berliner Ztg.“ weist darauf hin, daß
die Juden vielfach mit den freisinnigen Parteien unzufrieden seien und
deshalb die Sozialdemokratie verstärkt hätten, namentlich in Berlin. An-
dere liberale Blätter sehen in der Tarifvorlage und ihrer Behandlung die
Hauptursache. Die „Köln. Volksztg.“ (klerikal) sagt, die Sozialdemokratie
ziehe die Unzufriedenen deshalb am stärksten an, weil sie am kecksten gegen
die Regierung auftrete; jedermann leite heute in Deutschland aus irgend
einem persönlichen Aerger das Recht ab, sozialdemokratisch zu stimmen.
Um die Regierung oder Vorgesetzte zu ärgern, wählten viele sozialdemo-
kratisch. Ferner wird die Niederlage des Bundes der Landwirte, der nur
einen Führer in die Stichwahl bringt, lebhaft kommentiert. Die agrarische
„Deutsche Tagesztg.“ erklärt sie aus der Regierungspolitik, die keine feste
Wahlparole ermöglicht habe und aus der Feindschaft aller Parteien gegen
die konsequenten Agrarier.
Für die Stichwahlen gibt die „Nordd. Allg. Ztg.“ die Parole aus,
daß alle bürgerlichen Parteien überall gegen die Sozialdemokratie stimmen
sollten. Die „Kons. Korr.“ stimmt diesem Vorschlag unbedingt zu; die
„Kreuz-Ztg.“ wünscht namentlich, daß die Differenzen zwischen den beiden
christlichen Bekenntnissen zurücktreten sollen und hofft, daß Konservative,
Zentrum, Rechte und freisinnige Volkspartei den Umsturz gemeinsam be-
kämpfen werden. Die übrigen bürgerlichen Parteien geben keine allge-
meine Parole aus, sondern überlassen die Entscheidung den Wahlkreisen;
die freis. Bereinigung empfiehlt, im allgemeinen für die Sozialdemokraten
gegen die Rechte zu stimmen.
„Kölnische Zeitung“: „Wir denken, mit der Weltwende deutscher
Politik und mit der Umwandlung Deutschlands in den Fackelträger der
Sozialdemokratie wird es noch gute Wege haben. Die Sozialdemokratie
verdankt ihre Erfolge längst nicht mehr ihrem prinzipiellen Charakter,
sondern dem Zulauf, der sich jeder rohen und rücksichtslosen Opposition
zuwendet.“
Der Ausfall der Wahlen in Sachsen, wo von 23 Mandaten 18 den
Sozialdemokraten zufallen (nach den Stichwahlen 22), wird von den Li-
neralen durchweg auf das sächsische Klassenwahlsystem zum Landtag zurück-
geführt.