Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunzehnter Jahrgang. 1903. (44)

8 Das Dentshe Reith und seine einzelnen Glieder. (Januar 15.) 
besondere die Aufwendungen für das gewerbliche Unterrichtswesen, für 
Meisterkurse und zur Hebung des Handwerks erheblich vermehrt. Im 
Etat der Justizverwaltung finden sich erhöhte Summen für eine Anzahl 
neuer Stellen. Der Etat des Ministeriums des Innern fordert Mehr- 
beträge für die Polizeiverwaltung in den Provinzen und die Gendarmen. 
Auch im Kultusetat sind größere Aufwendungen gemacht worden, nament- 
lich für die Vermehrung der Seminare und zur Erleichterung der Volks- 
schullasten. Zur Ausgleichung der Gehaltsunterschiede der katholischen 
Geistlichen sind 15000 Mark eingestellt. Für Kunst und Wissenschaft sind 
trotz der ungünstigen Finanzlage Mehrbeträge eingestellt, und auch das 
Extraordinarium im Kultusetat ist wieder reichlich dotiert. Im allgemeinen 
waren wir bestrebt, die Ausgaben einzuschränken, um das Defizit zu ver- 
ringern, aber ich kann anderseits mit außerordentlicher Befriedigung darauf 
hinweisen, daß wir trotz der wirtschaftlich ungünstigen Lage allen notwen- 
digen Forderungen gerecht geworden sind. Sache des Hauses wird es sein, 
zu prüfen, ob es der Finanzverwaltung gelungen ist, den Etat nach rich- 
tigen Grundsätzen aufzustellen. Ich lege den Etat vertrauensvoll in Ihre 
Hände und bof- auf eine sachliche und wohlwollende Prüfung. 
15. Januar. (Reichstag.) Meistbegünstigungsfrage und 
Zollkriege. 
Abg. Bernstein (Soz.) polemisiert gegen die Bestrebungen, die 
Meistbegünstigung zu beseitigen, weil das zum Zollkriege führen müsse. 
Abg. Graf Kanitz (kons.) bedauert, daß die Handelsverträge am 31. Dezember 
nicht gekündigt worden seien. Ein Zollkrieg mit Amerika sei nicht zu 
fürchten. Staatssekretär Graf Posadowsky: Unser Verhältnis zu Ame- 
rika beruht auf einem Vertrag, der mit der preußischen Negierung im 
Jahre 1828 abgeschlossen worden ist. Wir waren der Ansicht, daß durch 
diesen Vertrag, dessen Rechtsgültigkeit im Jahre 1885 durch das Deutsche 
Reich anerkannt wurde, zwischen dem Deutschen Reiche und den Vereinigten 
Staaten ein unbedingtes Meistbegünstigungsverhältnis bestehe, des Inhalts, 
daß alle Konzessionen, die einer der beiden vertragschließenden Staaten 
einem dritten einräumt, ipso jure auch jedem der vertragschließenden Staaten 
zu Gebote stehen. Die Aeußerung des früheren Staatssekretärs des Aus- 
wärtigen Amtes Frhrn. v. Marschall stammt aus einer Zeit, wo die deutsche 
Reichsregierung noch dieser Auffassung war und keine Ereignisse eingetreten 
waren, die klar stellten, daß die Regierung der Vereinigten Staaten von 
Amerika eine andere Auffassung über die allgemeine Meistbegünstigung hat. 
Darauf kam der Dingley Tariß, und auf Grund dieses Tarifes schloß die 
Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika zwei Abkommen mit 
Frankreich und auch Abkommen mit anderen Staaten in Bezug auf ver- 
schiedene Artikel. Auf Grund unserer Auffassung von dem Inhalt und 
dem Wert der allgemeinen Meistbegünstigung verlangten wir von den Ver- 
einigten Staaten, daß diese in dem Abkommen mit Frankreich auf Grund 
des Dingley-Tarifs gewährten Konzessionen auch der deutschen Regierung 
eingeräumt würden. Bei dieser Gelegenheit kam die abweichende Auffassung 
der Regierung der Vereinigten Staaten zu unserer Kenntnis, daß sich die 
Konzessionen, die auf Grund der allgemeinen Meistbegünstigung von den 
Vereinigten Staaten eingeräumt wurden, nur auf Konzessionen pro prae- 
terito bezögen, daß aber Konzessionen, die neu eingeräumt würden, durch 
neue Gegenkonzessionen von dem meistbegünstigten Kontrahenten erworben 
werden müßten. Auf Grund dieser Sachlage verhandelten wir mit Amerika 
und glaubten im Interesse Deutschlands diesen Konfliktspunkt bis auf 
weiteres dadurch zu beseitigen, daß wir den Status quo Amerika gegenüber 
 
	        
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