Hs Neutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 10.) 181
die man heute den Menschen beweisen will, daß außerhalb dieser Welt der
Materie eine bessere Welt über dem Sternenzelt ist — also die Kirchen.
Denkmäler der Kunst wird man dafür um so andachtsvoller verehren.
Verschwinden werden die Bastillen der Arbeiter, nämlich die Fabriken,
verschwinden werden die Löcher, die gut genug für das Vieh sind, und
verschwinden werden die ungesunden, Keebekverbzeisenden Häuser, genannt
Wohnstätten! Der Unterschied zwischen Stadt und Land wird aufhören.
Dann werden die Menschen nicht mehr Sklaven sein und, ohne sich von
den Kulturgelüsten zu trennen, in der freien Natur leben können!“ Meine
Herren! Da frage ich doch mit aller Rücksicht, die ich für einen ehrlichen
und überzeugten Mann habe, der jetzt unter der Erde ruht, ist es mög-
lich, von dem Zukunftsprogramm einer großen Partei, die alles Bestehende
umstürzen will, ein nebelhafteres, phantastischeres und unklareres Bild zu
entwersen (Sehr richtig!), als das hier einer der hervorragendsten, der
hervorragendste parlamentarische Führer der Sozialdemokratie getan hat?
(Sehr richtig!) Was mich bei solchen Zukunftsbildern noch immer wundert,
ist, daß die Farben nicht viel dicker aufgetragen werden. Wenn Sie schon
das Aufhören der Verbrecher und der Zuchthäuser und der großen Städte
und der Fabriken versprechen, warum nicht auch das Aufhören von Kopf-
weh und Zahnschmerzen, von Tod und Krankheit? (Heiterkeit.) Bei Herrn
Kautsky habe ich gelesen, daß am Tage nach dem Siege der Sozialdemo-
kratie die Grundeigentümer, die Eroßindustriellen, die Kapitalisten ihres
Besitzes enteignet würden. Daß bei einem solchen großen Raubzug auch
nur die Lage der Arbeiter sich dauernd bessern würde, dafür bleibt Herr
Kautsky den Beweis vollkommen schuldig. Darüber, wie in dem Zukunfts-
staat praktisch regiert werden soll, wie bei der in Aussicht genommenen
Herabsetzung der Arbeitszeit und Hinaufsetzung der Arbeitslöhne eine Ver-
ringerung der Produkte verhindert werden soll, wie dem Arbeiter auch
nur der bescheidenste Rest von persönlicher Freiheit und eigener Initiative
bleiben soll, welcher Maßstab der Verteilung gelten soll, ob gleichmäßig
oder nach Maßgabe der Leistung — über alle diese einschneidenden und
grundlegenden Fragen erfahren wir so gut wie gar nichts. Ich bin also
erechtigt zu erklären, daß es der Sprung eines Blinden ins Dunkle ist,
den uns die Sozialdemokratie mit ihrer ganzen Agitation zumutet. (Zu-
stimmung und Beifall.) Was Sie an Stelle des Bestehenden setzen wollen
— das hat ja der Dresdener Parteitag in glänzender Beleuchtung gezeigt —,
das wissen Sie eben selbst nicht, darüber sind Sie selbst im Unklaren,
darüber sind Sie sich selbst nicht einmal untereinander einig. Bei der
Durchführung Ihres Parteiprogramms käme es hinaus auf die Schaffung
eines riesigen Staatszuchthauses, auf ein kolossales Ergaterion, wo es kein
Mensch aushalten würde. (Sehr richtig!) Es wird aber niemals gelingen,
einen solchen Zukunftsstaat herbeizuführen. Selbst wenn durch Anwendung
der brutalsten Gewalt, durch die von Ihnen in Aussicht genommene Dik-
tatur des Proletariats momentan der Besitz aller Menschen gleich gemacht
würde, so würde es selbstverständlich morgen wieder arm und reich geben,
(Lachen bei den Sozialdemokraten.) Ich sehe aus den Verhandlungen
Ihres Parteitages, daß jeder von Ihnen den andern für viel dümmer
hält als sich selbst. An dieser Besonderheit der Menschen, an diesem Be-
dürfnis nach individueller Freiheit werden Sie scheitern, auch wenn Sie
sich nicht vorher die Köpfe einrennen an den ehernen Mauern der gegen-
wärtigen Staats= und Gesellschaftsordnung, die sehr viel stärker ist als Sie
glauben. (Sehr wahr! rechts.) Den Abg. Bebel ertappt man auf Schritt
und Tritt in Widersprüchen. Untergang der Staats= und Gesellschafts-
ordnung wäre ja doch nur möglich bei einem Mangel an Egoismus und