Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunzehnter Jahrgang. 1903. (44)

Das Deuisqe Reithh und seine einzelnen Glieder. (Januar 19./23.) 19 
rede von Absolutismus, Bonapartismus, Cäsarismus u. s. w.? Als ich 
die dunklen Andeutungen des Herrn Abg. v. Vollmar in dieser Richtung 
eben hörte, fragte ich mich wirklich, ob ich mich nicht statt im deutschen 
Reichstage etwa in Marokko oder in China befände? (Heiterkeit.) Nennen 
Sie mir doch einen einzigen Fall, wo die verfassungsmäßigen Rechte des 
deutschen Volkes durch Se. Majestät, die deutschen Fürsten oder die Minister 
irgendwie mißachtet worden wären. (Zuruf links: Swinemünde. Glocke 
des Präsidenten.) — Vizepräsident Dr. Graf zu Stolberg: Ich bitte, den 
Herrn Reichskanzler nicht zu unterbrechen. — Reichskanzler Graf v. Bülow 
(sortfahrend): Ich kenne auch vielleicht bei uns, auch in Ihren Reihen, 
mehr oder weniger absolutistisch angelegte Parteiführer. (Zurufe.) Aber 
absolutistisch angelegte Fürsten und Minister sind mir in Deutschland nicht 
bekannt. (Großes Gelächter bei den Sozialdemokraten.) Absolutismus ist 
überhaupt kein deutsches Wort (Große Heiterkeit) und keine deutsche Be- 
zeichnung. Absolutismus ist ein asiatisches Gewächs und von Absolutismus 
wird in Deutschland nicht die Rede sein, solange unsere Zustände sich weiter 
entwickeln auf der Bahn von Gesetz und Ordnung und der Achtung der 
Rechte der Krone, die ebenso heilig sind, wie die Rechte der Bürger, die 
nicht verletzt werden dürfen und können. Wenn unsere Zustände jemals 
eine absolutistische, eine cäsarische Form annehmen sollten, so würde das 
die Folge sein von revolutionären Umwälzungen. Auf die Revolution 
folgt der Absolutismus, wie das W auf das Ul. Das ist das Abe der 
Weltgeschichte. (Sehr richtig!l) Der Abg. v. Vollmar hat sich auch ein- 
gehend mit den Verhältnissen zwischen Kaiser und Reichskanzler beschäftigt. 
Dieses Verhältnis wird staatsrechtlich präzisiert durch die bekannten Artikel 
15, 16, 17 der Reichsverfassung. Diese Artikel bilden die Grundlage und sie 
bilden die Form für das Verhältnis zwischen diesen beiden Faktoren. Das 
Wesen des Verhältnisses liegt in beiderseitigem guten Willen, beiderseitigem 
Wunsch, im Interesse der salus publica und für die salus publica zusammen 
zu wirken. Ohne gegenseitige Konzessionen und gelegentliche Kompromisse 
geht es nun einmal nirgends in der Welt. Das will ich aber mit aller 
Bestimmtheit aussprechen, daß das Recht der persönlichen Initiative dem 
Kaiser von keinem Reichskanzler verkürzt werden wird, soll, noch kann. 
Das würde weder den Tendenzen des deutschen Volkes entsprechen noch 
seinen Interessen. Das deutsche Volk will gar keinen Schattenkaiser; das 
deutsche Volk will einen Kaiser von Fleisch und Blut. Die Schattenkaiser 
haben genug Unheil über das alte Reich gebracht. Was aber den Reichs- 
kanzler angeht, so wiederhole ich, ein Reichskanzler, der überhaupt diesen 
Namen verdient, der ein Mann und nicht ein altes Weib ist (Heiterkeit), 
wird nichts vertreten, was er nicht pflichtgemäß vor seinem Gewissen ver- 
antworten kann. Daraus folgt nicht, m. H., daß der Reichskanzler sofort 
zurücktreten soll, sobald er einmal über irgend eine Angelegenheit anderer 
Meinung ist als sein Souverän. Wenn dem so wäre, dann würden meine 
Vorgänger mehr wie einmal ihre Entlassung eingereicht haben. (Hört, 
hört!l) Was? Gewiß, m. H., das ist ja allgemein bekannt! Die erste 
Eigenschaft, die ein Kanzler haben muß, das ist Augenmaß, unterscheiden 
zu können zwischen großen politischen Fragen, mit denen er sich zu be- 
schäftigen hat von Reichs wegen, und zwischen Angelegenheiten von nicht 
so großer Bedeutung. (Lachen links.) Wenn wegen solcher Dinge der 
Reichskanzler jedesmal seine Entlassung nehmen sollte, dann wäre das 
gerade so falsch, als wenn einer aus seiner Partei austreten müßte jedes- 
mal, wenn er mit dem Leiter seiner Partei anderer Meinung ist, und das 
wird wohl auch gelegentlich vorkommen. Aber ein nur ausführendes 
Organ, ein Instrument ist der Reichskanzler nicht, das würde weder den 
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