Das Vernsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jannar 19./23.) 23
von Berlin und London keine Aenderung eingetreten ist, daß dieselben sich
in den alten, bewährten, besonnenen und freundlichen Bahnen bewegen.
Und ich hoffe, m. H., daß mit der Zeit sich auch die öffentliche Meinung
hüben und drüben wieder beherrschen lassen wird von dem Gedanken, wenn
auch jede der beiden Mächte in den Welthändeln für sich allein fertig
werden kann, so daß keine der anderen nachzulaufen braucht, so sind sie
doch durch viele und schwerwiegende Interessen darauf hingewiesen, sich in
Frieden und Freundschaft zu vertragen. Es gibt eine Reihe von Punkten,
wo sich beide ohne jede Gefahr für sich selbst und den Weltfrieden auf einer
Linie bewegen können.
Abg. Dasbach (8.) ist befriedigt von den Erklärungen des Kanzlers
über das Wahlgeheimnis, vermißt aber eine Mitteilung über die Diäten.
21. Januar. Abg. Richter (fr. Vp.) wendet sich gegen die geplante
Verstärkung der Kavallerie, die bei den jetzigen Schußwaffen nicht mehr
die frühere Bedeutung habe. Die Veröffentlichung des Swinemünder
Telegramms sei unbegreiflich und bedeute für das Zentrum ein „Schweine-
glück“. Es herrsche eine Kabinettspolitik, die die Minister zu willenlosen
Handlangern mache. Die Kolonialpolitik sei unrentabel; in Afrika fehle
jede Bedingung für einen lohnenden Eisenbahnbetrieb, man solle die kost-
spieligen Bauten daher aufgeben. — Abg. v. Kardorff (RP.) plädiert für
höhere indirekte Steuern nach dem Beispiel Englands und Frankreichs.
Die soziale Gesetzgebung lege den Arbeitgebern, insbesondere der Landwirt-
schaft schwere Lasten auf, sie seien aber willig getragen worden. Die geistigen
Waffen reichten gegen die Sozialdemokratie nicht aus, man bedürfe eines Ge-
setzes gegen den Umsturz. — Abg. Liebermann v. Sonnenberg (Antif.)
tadelt, daß die Burengenerale nicht vom Kaiser empfangen worden seien.
Reichskanzler Graf Bülow: Der Abg. v. Kardorff scheint mir nicht
einverstanden zu sein mit dem kaiserlichen Marginal in dem Bericht des
Fürsten Radolin über eine Unterredung desselben mit dem vormaligen
französischen Handelsminister Millerand, welche ich gestern in dem hohen
Hauz= verlesen habe. Das betreffende Marginal lautet übrigens nicht, wie
der Abg. v. Kardorff soeben sagte, „richtig, wie bei uns“, sondern die Stelle
im Bericht lautete: „Er verfolgt energisch die Hebung der unteren Klassen,
wozu die Bourgeoisie nicht allzu geneigt ist", und dazu hat Se. Majestät
der Kaiser an den Rand geschrieben: „Richtig, und das überall!“ M. H.,
ich bin weit entfernt, zu bestreiten, daß gerade in Deutschland, wie der
Abg. v. Kardorff hervorgehoben hat, das Bürgertum, das Unternehmertum
viel geleistet hat für die Hebung der unteren Klassen (Sehr richtig! rechts),
und daß es tatkräftig mitgewirkt hat am Aufbau und Ausbau der sozialen
Gesetzgebung, aber es liegt in der menschlichen Natur und es liegt im
menschlichen Egoismus, daß jede Gesellschaftsschicht Opfer zu Gunsten einer
anderen Gesellschaftsschichte nur ungern bringt, und deshalb ist es die
Pflicht des Staates, und es ist die Pflicht der Monarchie, hier auszugleichen
und zuzugreifen, indem sie davor warnt, Dinge zu verlangen, welche die
Konkurrenzfähigkeit der Nation auf dem Weltmarkt beeinträchtigen, welche
unsere wirtschaftliche Entwicklung erschüttern könnten, aber auch die Arbeit-
geber und Unternehmer auffordert und ermahnt, kräftig mitzuwirken, da-
mit die Klassendifferenzen immer mehr zusammenschrumpfen, damit die
ärmeren Klassen wohlhabender werden, damit immer mehr Individualitäten
aufsteigen aus den unteren in die reicheren und wohlhabenderen Schichten
der Bevölkerung, mit anderen Worten für den sozialen Aufschwung. Das
ist mein soziales politisches Bekenntnis, das ist die Ansicht der verbündeten
Regierungen, und dieser Ansicht hat Se. Majestät der Kaiser Ausdruck ge-
geben in dem Marginal, das vorgelesen zu haben ich nicht bedauere. —