Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunzehnter Jahrgang. 1903. (44)

Italien. (Dezember 1. 3.) 305 
nischer Hochschulkurse in Innsbruck (S. 228). Die Regierung tritt 
ihnen energisch entgegen. 
1. Dezember. Die Kammern treten zusammen. Minister- 
präsident Giolitti legt das Programm der Regierung vor: 
Die Regierung setze die von dem vorigen Kabinett inaugurierte 
Politik der weitgehendsten Freiheit innerhalb der gesetzlichen Grenzen, die 
eine ungeheure Mehrheit des Landes gutgeheißen habe, fort. Jetzt solle 
zudem eine Periode sozialer, wirtschaftlicher und finanzieller Reformen be- 
ginnen. Die Hauptfragen seien die Handelsverträge, die Erleichterung des 
Druckes der Staatsschuld, die Bahnfrage und die Hebung der Provinzen 
im Süden. Bei den Handelsvertragsverhandlungen, die mit Deutschland, 
Oesterreich-Ungarn und der Schweiz schweben, schöpft die Regierung aus 
den vortrefflichen Absichten aller Beteiligten das Vertrauen, die in der 
Sache selbst liegenden Schwierigkeiten überwinden zu können, welche solche 
Verhandlungen überall begleiten. Die Regierung strebe dahin, den Agrar- 
export zu fördern und sei deshalb bereit, die Industriezölle, soweit nicht 
der Bestand der Industrie gefährdet werde, zu verringern und auch den 
Petroleumzoll erheblich herabzusetzen. Die Konversion der 4¼ proz. Rente, 
welche einen Restgewinn von 6 Millionen jährlich bringt, ist vorbereitet 
und bedarf nur noch der Genehmigung der Kammer. Die Regierung be- 
schäftigt sich voller Zuversicht mit der eine Ersparnis von 40 Millionen 
bringenden Konversion der 5proz. konsolidierten Anleihe, welche den Beginn 
eines wahrhaften wirtschaftlichen Wiedererstehens Italiens bedeuten wird. 
Die Regierung wird auch die Eisenbahnfrage vorurteilslos prüfen und falls 
eine angemessene Organisierung des Privatbetriebes undurchführbar sein 
sollte, eine Vorlage einbringen betr. die eventuelle Organisierung des Staats- 
betriebes. — Es sei nötig eine unbeugsame und gesetzmäßige Ueberwachung 
der Provinzverwaltungen und der Gemeindeverwaltungen des Südens. Die 
Durchführung der für den Süden bewilligten Bahnbauten und Sanierungs- 
arbeiten sowie der apulischen Wasserleitung soll beschleunigt werden. Ferner 
will die Regierung die industrielle Entwicklung Neapels und die Bildung 
kleinen Grundbesitzes fördern und die Lasten der Gemeindeschulden, der 
Provinzschulden und der Grundschulden verringern. — Die Regierung ist 
bestrebt, durch eine strenge Finanzgebarung das Gleichgewicht des Budgets 
aufrecht zu erhalten, das eine Vorbedingung der Rentenkonversion und der 
damit geplanten Steuerreform zu Gunsten der unteren Klassen ist. Der 
Volksschulunterricht soll gehoben, die Finanzen der Gemeinde Rom ge- 
regelt und die Eisenbahn Turin—Nizza gebaut werden. Die Verhältnisse 
der Aktiengesellschaften sollen streng geregelt, die Verantwortlichkeit der Ver- 
waltungen verschärft und die Börsenzeit eingeschränkt werden. Ferner soll 
der Zwangswohnsitz beseitigt und eine Reihe sozialer Reformen durchge- 
führt werden. — Die Erklärung schließt mit folgenden Worten: „JItalien 
befindet sich in der auswärtigen Politik in einer sehr günstigen Lage, dank 
seiner Bündnisse und Beziehungen und der herzlichen Freundschaft mit den 
übrigen Mächten, die neuerdings feierlich durch den glänzenden Empfang 
des Königs und der Königin in England und in Frankreich bekräftigt 
wurden. Diese Verhältnisse, die gute Finanzlage und andere Umstände 
ermutigen die Regierung, die vom Lande gewünschten Reformen zu unter- 
nehmen. Die Regierung verlangt hierzu aber ein sofortiges ausdrückliches 
Vertrauensvotum des Parlaments oder eine unverzügliche freimütige Ab- 
lehnung des Vertrauens. 
3. Dezember. Die Kammer spricht der Regierung mit 284 
Europäischer Geschichtskalender. XI#. 20 
 
	        
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