Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunzehnter Jahrgang. 1903. (44)

Rußland. (Januar 13.) 329 
Ueber die internationale politische und wirtschaftliche Lage heißt es: 
Eine sehr erhebliche Besserung ist im Jahre 1902 auch in Bezug auf den 
russischen Außenhandel erzielt worden. Der Wert der von uns ausge- 
führten Waren hat den der Einfuhr um 300 Millionen Rubel, also um 
einen höheren Betrag als in irgend einem Jahre des vorhergehenden Jahr- 
zehnts, überstiegen. An die Staatsfinanzen werden bei uns nicht selten 
übertriebene Anforderungen gestellt. Im Laufe der Zeit hat sich eine 
Gewöhnung an eine günstige Gestaltung des Finanzhaushalts festgesetzt, 
und das Erkenntnis der Notwendigkeit einer sparsamen Verwendung der 
Staatsmittel ist allmählich schwächer geworden. Die Ansprüche in betreff 
einer umfassenderen Befriedigung der verschiedenartigsten Bedürfnisse 
werden immer dringlicher geltend gemacht; gleichzeitig werden Klagen über 
die Höhe der Besteuerung laut und Maßnahmen zur Herabsetzung der 
Aufhebung der Steuern in Vorschlag gebracht. Welches Bedürfnis erscheint 
nun für den Staat am dringlichsten? Selbstverständlich dasjenige, dessen 
Befriedigung die ganze Existenz des Staates, seine äußere Integrität sicher- 
stellt. Zu dem Zwecke trägt die Bevölkerung persönliche Dienstleistungen, 
zahlt sie den größten Teil der Steuern, wogegen sie das unschätzbare, durch 
keinerlei materielle Güter aufzuwiegende Bewußtsein erhält, daß sie ihr 
Hab und Gut sowie das gesamte Heimatland vor auswärtigen Feinden 
gesichert weiß. Es ist vom wirtschaftlichen und humanitären Standpunkt 
zu bedauern, daß die Menschheit noch nicht von den großen Ideen des all- 
gemeinen Weltfriedens durchdrungen erscheint. Dennoch muß es heutzu- 
tage anerkannt werden, daß wir unter der Wirkung eines eisernen Gesetzes 
stehen und zur Befriedigung von Kulturbedürfnissen nur dasjenige ver- 
wenden können, was nach erfolgter Deckung der Ausgaben für die Lan- 
desverteidigung übrig bleibt. Wenn solche Anforderungen zu diesem 
Zwecke an den Finanzminister gestellt werden, so ist es für ihn äußerst 
schwierig zu beurteilen, inwiefern diese oder jene Maßnahmen der Landes- 
verteidigung erforderlich sind. Ist aber die Notwendigkeit einmal aner- 
kannt, so liegt es ihm ob, Mittel dafür zu beschaffen. Hieraus entsteht 
für ihn die schwere Pflicht, die Initiative zur Einführung und Erhöhung 
von Steuern zu ergreifen, sowie auch die Durchführung aller solcher Maß- 
nahmen von der Hand zu weisen, für die nach erfolgter Sicherstellung des 
oben erwähnten dringendsten Staatsbedarfs die Mittel nicht ausreichen. 
Der Zar richtet folgendes Schreiben an den Finanzminister: „Vor 
zehn Jahren berief Sie Mein in Gott ruhender Vater zum Leiter des 
Finanzministeriums. Ungeachtet der schweren Folgen der Mißernte des 
Jahres 1891 begannen Sie mit festem Glauben an die wirtschaftliche Macht 
Rußlands und mit fester Energie die Regelung der russischen Finanzen, 
die von Ihrem Vorgänger angefangen wurde, und hatten das Vertrauen 
aufrecht erhalten und die Dankbarkeit Kaiser Alexanders III. erworben. 
Heute nach zehnjähriger Tätigkeit Ihrer Leitung der Finanzen ist es mir 
angenehm, Ihnen meine Dankbarkeit auszudrücken für alles das, womit 
Sie im Verlauf der letzten acht Jahre auch Mein Vertrauen erworben 
haben. Mit demselben Glauben an die Zukunft des russischen Volkes und 
mit derselben Ergebenheit dem Throne gegenüber erleichterten Sie Mir 
nicht nur die Mühe der Ausführung meiner Hauptsorgen um die Ver- 
stärkung der Staatsmacht, der Wehr und des Wohlstandes des Mir von 
Gott anvertrauten Reiches, sondern erweckten auch zur Selbständigkeit die 
besten Kräfte der Volksarbeit, sicherten die Unabhängigkeit und Zuverlässig- 
keit des Geldumsatzes, vermehrten die Hilfsquellen des Staates, wodurch 
Sie es ermöglichten, die von Jahr zu Jahr allmählich wachsenden Bud- 
gets ohne Defizit abzuschließen. Unabhängig von Ihren vielseitigen Pflichten
	        
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