Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunzehnter Jahrgang. 1903. (44)

Kußland. (April 20.) 337 
in der Stadt; die Wohnungen von Juden wurden zerstört und diese nieder- 
geschlagen. Die die Stadt durchziehenden Militärpatrouillen erwiesen sich 
als ungenügend. Es wurden neue Truppenkommandos herbeigerufen, 
wobei die Erteilung der Anordnungen zur Aufrechterhaltung der Ordnung 
vom Gouverneur der Militärobrigkeit übertragen wurde. Den anfangs 
herbeigerufenen Truppen gelang die Unterdrückung der Unruhen nicht, 
weil infolge mangelhafter Maßnahmen der Polizei, der offenbar die nötige 
Leitung fehlte, die Straßen außer von den Ruhestörern auch haufenweise 
von Neugierigen gefüllt waren. Nachdem die Truppen planmäßig auf 
einzelne Bezirke verteilt worden waren, hörten dort die Unruhen am Abend 
des Ostermontags auf, ohne sich zu erneuern. Die Vorgänge in Kischinew 
versetzten die jüdische Bevölkerung an vielen Orten des Reiches in Unruhe 
und riefen unter den Christen Gerüchte von bevorstehenden Judenhetzen 
hervor. In einigen Städten begannen die Juden Vereinigungen zu ihrer 
Selbstverteidigung zu bilden. Auf Grund der vom Direktor des Polizei- 
departements an Ort und Stelle gepflogenen Erhebungen, wies der Kaiser 
den Minister des Innern an, den Chefs der Gouvernements und der 
Städte einzuschärfen, daß es ihnen unter persönlicher Verantwortung zur 
Pflicht gemacht wird, Maßnahmen zu treffen, um Gewalttätigkeiten vorzu- 
beugen und die Bevölkerung zu beruhigen, damit der Anlaß zum Auftau- 
chen von Befürchtungen für das Leben und Eigentum irgend eines Teils 
der Bevölkerung entfalle. 
Nach Berichten westlicher liberaler Blätter ist die Zahl der getöteten 
Juden weit größer. Pater Johann von Kronstadt (vgl. 1894 S. 300), der 
Berater des Zaren, schreibt über die Vorgänge: „Meinen geliebten Brüdern 
in Gott Christo, den Kischinewschen Christen! Aus den jetzt vorliegenden 
Zeitungsberichten über die kischinewsche Katastrophe habe ich mich zuver- 
lässig überzeugt, daß die Israeliten selbst die Ursache der Unruhen, der 
Mißhandlungen und Tötungen gewesen sind, die den 6. und 7. April 
kennzeichnen. Ich habe mich überzeugt, daß die Christen schließlich doch 
die Geschädigten geblieben sind, die Juden aber für die erlittenen Verluste 
und Mißhandlungen doppelt durch ihre und fremde Mitbürger entschädigt 
worden sind. Das weiß ich auch aus Privatbriefen, die mir von wahr- 
heitsliebenden, lange in Kischinew lebenden und die Verhältnisse gründlich 
kennenden Leuten geschrieben worden sind. Deshalb wende ich mich an die 
kischinewschen Christen: „Verzeiht mir die ausschließlich an Euch gerichtete 
Beschuldigung wegen des vorgekommenen Unfugs! Jetzt habe ich mich aus 
Briefen von Augenzeugen überzeugt, daß man nicht die Christen allein 
beschuldt öän kann, die zu den Unordnungen von den Juden herausgefordert 
worden sind."“ 
20. April. Der Kaiser stellt für die weitere Schulreform 
folgende Grundlagen auf: 
Die klassischen Gymnasien bleiben bestehen, jedoch soll in der Mehr- 
zahl derselben Griechisch nicht obligatorisch sein. Die Absolvierung des 
Gymnasialkursus berechtigt zum Universitätsstudium; der Besuch der Heten- 
klassigen Realschule gibt das Anrecht auf höhere technische Bildung, der 
der geplanten sechsklassigen auf den Staatsdienst in der Provinz. Tech- 
nische und Fachbildung sind möglichst zu fördern; besondere Aufmerksam- 
keit ist der Hebung der religiössittlichen und patriotischen Erziehung durch 
die Schule zuzuwenden. Es sind ferner Maßnahmen zu treffen, daß die 
Lehrer eine der Schulreform entsprechende Ausbildung erhalten. Für die 
Schüler gewisser Gruppen von Lehranstalten sind Pensionsanstalten ein- 
zurichten. 
Europäischer Geschichtskalender. XIIV. 22
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.