Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunzehnter Jahrgang. 1903. (44)

NMebersicht der politischen Eutwickelung des Jahres 190. 397 
weilen einander im bitteren Haß gegenüberstehen. Jede Natio- 
nalität möchte in einem solchen Staat die herrschende Rolle spielen 
und jede zieht die Fortdauer der Türkenherrschaft vor, ehe sie einer 
andern den Vorrang gönnt. Auch eine Teilung nach den Natio- 
nalitäten ist bei dem Durcheinanderwohnen ausgeschlossen. Es 
bleibt daher nichts übrig als lokale Reformen unter Wahrung des 
türkischen Besitzstandes durchzusetzen. Dahingehende Wünsche trugen 
OÖsterreich-Ungarn und Rußland in Konstantinopel vor (Februar). 
Hiernach sollte ein Generalgouverneur für Makedonien mit weit- 
gehenden Vollmachten bestellt werden, um nicht von Konstanti- 
nopeler Intriguen behindert zu sein; er sollte auf mehrere Jahre 
ernannt und nur mit Zustimmung der Mächte innerhalb dieser 
Frist abberufen werden können, wodurch man ihm einen Rückhalt 
gegen den Hof sichern wollte. Ferner sollte für jedes makedonische 
Vilajet ein genaues Budget aufgestellt und die Einnahmen sollten 
in erster Linie zur Befriedigung lokaler Bedürfnisse verwendet 
werden, während sie bisher nach Konstantinopel geflossen waren. 
So schien der Steuerdruck gemindert und die Verwaltung von den 
ärgsten Mißbräuchen befreit zu sein; die unteren Polizeiorgane ins- 
besondere waren nicht mehr auf die Ausplünderung des Volkes 
angewiesen. Je nach den lokalen Verhältnissen sollten überdies 
Christen und Muhammedaner gemischt in die Gendarmerie ein- 
geteilt, und fremde Offiziere zur Disziplinierung herangezogen 
werden. Der Sultan nahm das Programm sogleich an, so daß 
auch von dieser Seite die Quelle der Unruhen geschlossen zu 
sein schien. 
Aber so leicht mit dem Großherrn zu verhandeln war, so 
schwer waren die populären Stürme zu beruhigen. Die Albaner 
waren mit den Reformplänen unzufrieden und empörten sich da- 
gegen; der russische Konsul in Mitrowitza, der als Führer der 
Christen galt, wurde getötet: ehe diese Insurrektion nicht nieder- 
geworfen war, war die Ausführung der Reformen unmöglich. Auf 
der anderen Seite setzten die bulgarisch-makedonischen Gesellschaften 
trotz der Auflösung der Zentralleitung die revolutionäre Agitation 
fort. Ihr vornehmster Führer, Boris Sarafow, der der Verhaf- 
tung durch die Flucht nach Makedonien entronnen war, organi-
	        
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