Nebersicht der volitischen Entwicelnus des Jahres 1903. 401
trages über die Mandschurei gedrängt, und der Abschluß eines
Handelsvertrages mit China, wonach die mandschurischen Häfen
dem Verkehr offenstehen sollen, gab ihr einen Rechtsgrund, gegen
die Sonderstellung der Russen in der Mandschurei zu protestieren.
Da ein Erfolg ausblieb, so bemächtigte sich der Nation eine kriege-
rische Stimmung; sie betrachtete es als nationale Schmach, daß die
Russen die Halbinsel Liautung besäßen, die einst die Japaner hatten
aufgeben müssen (1895), und im Herbst schien nach Berichten eng-
lischer Blätter der Ausbruch des Krieges unmittelbar bevorzustehen.
Es trat dann zwar eine Beruhigung ein, aber gegen Schluß des
Jahres verdüsterte sich die Lage aufs neue. Das japanische Par-
lament forderte stürmisch in heftigen Ausfällen gegen die allzu nach-
giebige Regierung einen entscheidenden Schritt gegen Rußland, und
die Regierung sah sich gezwungen, das Parlament aufzulösen, um
die eingeleitete Verhandlung nicht durch populäre Ausbrüche zu
erschweren. Die japanische Regierung hat zwar mit großem Eifer zu
Lande und zu Wasser gerüstet, aber sie ist weit vorsichtiger als die
öffentliche Meinung. Anscheinend ist fie noch nicht entschlossen,
allein einen Krieg mit Rußland zu wagen. Der Bundesgenosse
Japans, England, aber hat noch eine neutrale Haltung bewahrt;
seine Sympathie war zwar offenkundig auf der Seite Japans, aber
nichts läßt darauf schließen, daß er ihm eine militärische Unter-
stützung gewähren würde. Andererseits sprechen auch in Rußland,
abgesehen von dem friedlichen Charakter des Zaren, manche Gründe
für eine friedliche Lösung: Die Finanzlage ist ungünstig, der Aus-
gang des Krieges am Gelben Meer wäre bei der ungeheuren Ent-
fernung vom Zentrum des Reiches und der mangelhaften Beschaffen-
heit der einzigen unmittelbaren Verbindungslinie, der fibirischen
Bahn, höchst ungewiß, endlich wäre wie erwähnt die russische Politik
am Balkan hierdurch gelähmt. Daher sind zu Beginn des neuen
Jahres Berichte aus Ostafien eingetroffen, die eine friedliche Wen-
dung erhoffen lassen. Aber über den Inhalt der Verhandlungen,
die in Petersburg und Tokio geführt werden, ist authentisch nichts
bekannt. Es wird vielfach vermutet, daß die Mächte einen modus
vivendi finden, indem Rußland auf den koreanischen Hafen ver-
zichten und Japan dafür den Rufsen die Mandschurei überlassen wird.
Europäischer Geschichtskalender. XILV. 26