Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunzehnter Jahrgang. 1903. (44)

Nebersicht der volitischen Entwichelung des Jahres 1903. 407 
und wo die Sozialdemokratie dennoch alle Reichstagsmandate bis 
auf eins erobert hat. Eine gewisse Verstärkung haben die Gegner 
der Repressivpolitik erfahren durch den Tag der nationalgesinnten 
Arbeiter in Frankfurt (S. 159), der sich ebenfalls dagegen ausge- 
sprochen und einige Wünsche der Arbeiter zur Verbesserung ihrer 
Lage formuliert hat. Einstweilen ist im Reichstage keine Mehrheit 
für eine Gewaltpolitik vorhanden, und die Regierung ist nicht ge- 
neigt, sie zu versuchen, wie die Ansprache des Kaisers an die Dan- 
ziger Werkstättenarbeiter (S. 136) und die Antworten Bülows an 
den Grafen Limburg-Stirum und an die Arbeiterdelegierten (S. 184) 
beweisen. Ob damit freilich eine fruchtbare gesetzgeberische Tätig- 
keit im entgegengesetzten Sinne gesichert ist, steht noch dahin. Vor- 
läufig hat es im Reichstage außer jener Absage an die Gewalt- 
politiker nur eine Auseinandersetzung zwischen dem Reichskanzler 
und dem Abg. Bebel gegeben, in der der Kanzler die politischen 
Ziele der Sozialdemokraten mit treffendem Spott behandelte. 
Größere positive Aufgaben lagen dem Reichstag außer der von den 
Einzelstaaten dringend verlangten Finanzreform (S. 168), über die 
im nächsten Jahre zu berichten sein wird, noch nicht vor. 
In jener Diskussion über die Bekämpfung der Sozial- 
demokratie spielte eine große Rolle die Frage, welchen Einfluß 
die Vergrößerung der Reichstagsfraktion auf die Partei ausüben 
werde. Die Gegner der Gewaltpolitik waren der Meinung, daß 
die gemäßigten Elemente, denen die schleunige Verbefferung der 
Lage der Arbeiterschaft wichtiger ist als der Umsturz der geltenden 
Staatsordnung in ferner Zukunft, wachsen würden; man hoffte, daß 
sie die ganze Fraktion immer mehr zur pofitiven Mitwirkung an 
den legislatorischen Arbeiten drängen und so ihre revolutionäre 
Agitationskraft vermindern würden, wenn nicht gar eine Spaltung 
zwischen dem revisionistischen und radikalen Flügel eintrete. In 
der Tat traten nach den Reichstagswahlen in den Debatten über 
das Reichstagspräsidium und andere Fragen (S. 119, 129) weit- 
gehende Differenzen hervor, aber sie bezogen sich nur auf die Tak- 
tik, nicht auf das Verhältnis der Partei zu den nationalen Auf- 
gaben. Der Dresdener Parteitag hat diese Differenzen nicht ge- 
schlichtet. Er hat zwar formell den Revifionisten ein Tadelsvotum
	        
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