Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einundzwanzigster Jahrgang. 1905. (46)

4         Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 11./16.) 
einen Überschuß von 40 Millionen bringen. Auch das Jahr 1905 werde 
voraussichtlich eine günstige Entwicklung bringen, und der Abschluß der 
Handelsverträge würde dazu beitragen. Über das Verhältnis zu den 
Reichsfinanzen sagt er: Scheinbar im Widerspruch mit den günstigen Aus- 
sichten, die ich eröffnet habe, steht fest, daß der Etatsentwurf niedrigere 
Ziffern in den Einnahmen und Ausgaben aufweist als der von 1904. 
Während jener mit 2 Milliarden 800 Millionen Mark balanciert, sieht 
der Etat für 1905 für Einnahmen und Ausgaben nur 2 Milliarden 
713 Millionen vor. Der niedrigere Satz ist eine Folge der sogenannten 
kleinen Finanzreform. Das Mißverhältnis zwischen dem Reiche und den 
Einzelstaaten, das letztere schwer bedrückt, bleibt bestehen. Wenn das Reich 
ganz unvorhergesehene Ansprüche an die Einzelstaaten stellte, würden diese 
dadurch in große Schwierigkeiten kommen, die um so größer wären, je 
kleiner die davon betroffenen Länder wären, und je weniger die Staaten 
in der Lage seien, aus Eisenbahnen, Domänen und Forsten sich die Hilfs- 
mittel zu beschaffen, um die Ansprüche des Reiches zu decken. Der Reichs- 
etat für 1905 fordert eine Zuschußanleihe von 51 Millionen. Wird sie 
vom Reichstage nicht bewilligt, so würden 30 Millionen sofort auf den 
preußischen Etat fallen. Wo soll er eine solche erhebliche Summe her- 
nehmen? Die Folge wäre, daß der Etat mit einem Defizit abschlösse, und 
man müßte eine Anleihe machen. Preußen würde dann eine Aufgabe 
ausführen müssen, die dem Reiche zunächst zufalle, nämlich eine feste Ab- 
grenzung des Finanzverhältnisses zwischen Reich und Einzelstaaten. Dies 
sei keine reine Finanz-, sondern eine hochpolitische Frage... Neue 
Kosten würde das Volksschulgesetz bringen. Eine Reform des Einkommen- 
steuergesetzes sei in Vorbereitung. Es wäre nicht möglich gewesen, 
den Etat zu balancieren, wenn nicht die Finanzverwaltung eine sehr energische 
Einwirkung auf einzelne Ressorts ausgeübt hätte, die Forderungen auf das 
Notwendigste zu beschränken, und wenn sie dabei nicht durch die allgemein 
günstige Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse unterstützt worden 
wäre. Ich kann daher nur mit der Bitte schließen, Maß zu halten in den 
Ausgaben, um den preußischen Finanzen dadurch ihre alte, gesicherte und 
feste Grundlage zu geben. Ich spreche die Erwartung aus, daß es diesmal 
möglich sein wird, den Etat rechtzeitig zu verabschieden. (Beifall.) 
                 11./16. Januar. (Reichstag.) Beratung des Reichsjustizetats. 
Schwurgerichte. Auslieferung. 
            Es wird u. a. getadelt, daß Schwurgerichtspräsidenten häufig Wahr- 
sprüche von Geschworenen kritisieren. Staatssekretär Nieberding miß- 
billigt diese Vorkommnisse. Freisinnige Abgeordnete verlangen die Auf- 
hebung des Gotteslästerungsparagraphen (§ 166); Mitglieder des Zentrums 
erklären sich scharf dagegen. Sozialdemokratischen Behauptungen gegenüber 
betont Abgeordneter Lenzmann  (fr. Vp.) die Unparteilichkeit der Richter; 
eine Klassenjustiz herrsche in Deutschland nicht. — Auf Antrag des Ab- 
geordneten Müller-Meiningen (fr. Bp.) wird eine Resolution angenommen, 
den Reichskanzler zu ersuchen, dafür zu sorgen, daß die Gegenseitigkeit 
gemäß §§ 102 und 103 des Reichsstrafgesetzbuches nur nach ordnungsmäßig 
veröffentlichten und genehmigten Staatsverträgen und nur solchen Staaten 
gewährt wird, welche nach ihrer eigenen inneren Verfassung und ihren 
Rechtseinrichtungen eine „Verbürgung" der Gegenseitigkeit im Sinne der 
erwähnten Bestimmungen gewährleisten können. Ferner sollen über die 
Auslieferung fremder Staatsangehöriger nur Staatsverträge gemäß Ar- 
tikel 11 der Reichsverfassung, d. h. mit Zustimmung des Bundesrats und 
Genehmigung des Reichstags, zwischen dem Deutschen Reiche und den aus- 
  
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.