Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einundzwanzigster Jahrgang. 1905. (46)

Das Denisqhe Reit und seine einzelnen Glieder. (Oktober 15.) 123 
als belanglos hinzustellen. So leicht wird es allerdings nicht möglich sein, 
die Delcasséschen Enthüllungen abzuschütteln. Ob und was an ihnen wahr 
ist, konn man nur in England und in Frankreich wissen, und diese beiden 
Länder haben auch in erster Linie ein Interesse daran, daß die Angelegen- 
heit in unanfechtbarer Weise klargestellt werde. In jedem Falle muß aber 
angenommen werden, daß Delcassét an das Versprechen der englischen 
Kriegshilfe geglaubt und danach seine Politik eingerichtet hat. Darin aber 
liegt die große Bedeutung und dadurch wird es unmöglich gemacht, sie 
einfach als belanglos hinzustellen. Durch die Tatsache, daß Delcassé an 
die englische Hilfe geglaubt hat, wurde die französische Politik in einer 
überaus gefährlichen Weise beeinflußt und für die praktische Wirkung ist 
es ziemlich gleichgültig, ob Delcassé wirklich darauf rechnen konnte, oder 
ob er sich in einer Täuschung befand. Die Täuschung konnte in der Politik 
ebenso gefährlich werden, wie die leidenschaftliche Gefühlspolitik und gerade 
in diesem Falle leuchtet es ein, daß die vielen Selbsttäuschungen Delcassés, 
wenn es solche waren, sich in ihren Wirkungen genau so äußerten, wie 
nur eine von leidenschaftlichen Gefühlen getragene Revanchepolitik es hätte 
tun können. Die Enthüllungen sind also durchwege ernst zu nehmen und 
man kann sie nicht als lächerliche Phantastereien abtun. Hätte doch wenig 
gefehlt, daß diese Ueberzeugungen des Herrn Delcassé, die offenbar eine 
der Grundlagen seiner Politik bildeten, Europa in einen Krieg stürzen 
konnten, wie er furchtbarer nicht gedacht werden kann. Die Frage, wie 
es möglich war, daß Herr Delcassé zu einer Ueberzeugung kam, die jetzt 
von dem größten Teile der englischen Presse als ganz unhaltbar bezeichnet 
wird, vermögen wir nicht zu lösen, wie wir uns auch keine Vorstellung 
darüber machen können, welche verantwortlichen oder unverantwortlichen 
Faktoren es gewesen sind, die ihn zu dieser Ueberzeugung gebracht haben. 
Wie schon gesagt, nur in England oder in Frankreich könnte man darauf 
die richtige Antwort finden und diese Antwort würde jedenfalls interessanter 
sein, als das jetzt beliebte Verfahren, die Richtigkeit der Enthüllungen ein- 
fach abzuleugnen.“ 
Am 15. Oktober schreibt die „Norddeutsche Allgemeine Zei- 
tung“ hierüber: 
„Von Beginn an stand fest, daß die maßgebenden Kreise in Frank- 
reich zu den Enthüllungen keinerlei Beziehungen hatten, eine Tatsache, die 
vollkommen ausreichte, um den „Enthüllungen“ jede Bedeutung für die in 
den letzten Monaten erzielte Gestaltung des deutsch-französischen Verhält- 
nisses zu nehmen.“ — Ueber eine Meldung des Bureau Reuter, daß Eng- 
land in Berlin die Enthüllungen des „Matin“" über das militärische Ver- 
sprechen Englands dementiert habe, schreibt sie: „Wir können bestätigen, 
daß die englische Regierung eine Mitteilung solchen Inhalts in spontaner 
Weise hat hierher gelangen lassen und daß sie deutscherseits ebenso loyal, 
wie sie gegeben wurde, entgegengenommen worden ist. Ein Zwischenfall 
in den diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und England ist 
durch die Behauptungen des „Matin" nicht hervorgerufen worden; ander- 
seits aber handelt es sich um eine von der englischen Regierung selbst als 
vertraulich bezeichnete Mitteilung, die im Sinne der Londoner Regierung 
nicht für die Oeffentlichkeit bestimmt war. Wir stellen fest, daß alle Be- 
hauptungen, wonach die deutsche Regierung von der englischen oder fran- 
zösischen Regierung über die Angaben der Pariser Blätter Erklärungen 
verlangt hätte, unzutreffend sind. Ein solcher Schritt würde angesichts der 
Form, in der die Angaben gemacht sind, der diplomatischen Courtoisie nicht 
entsprechen. Es würde auch mit der loyalen Gesinnung nicht im Einklang
	        
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