Das Veesche Reich und seine einzelven Glieder. (Dezember 6./15.) 151
um das Vertrauen der Arbeiter zu gewinnen. Mit Unrecht hat man
neulich hier von der traurigen Lage der deutschen Arbeiter gesprochen.
Von englischer Seite ist ein sehr lesenswertes Buch über die Lage der
deutschen Arbeiter erschienen, das in bezug auf die sittliche Erziehung des
deutschen Volkes von allgemeinem Wert it. Es heißt darin, es sei ganz
unzweifelhaft, daß der deutsche Arbeiter besser genährt sei wie der eng-
lische, und daß er sich eines höheren sozialen Lebensstandes erfreue wie
der englische. Es scheine, daß die billige Nahrung nicht der einzige wich-
tige Gesichtspunkt in der Wohlfahrt eines Volkes sei, sondern die Intelli-
genz und bewußte Selbstbeschränkung sei vielleicht von noch größerer Be-
deutung. Man kann in der Tat behaupten, daß die Intelligenz des
deutschen Arbeiters dank der deutschen Schulbildung ganz außerordentlich
gestiegen ist, und man kann nur wünschen, daß er von dieser Intelligenz
auch in den Kämpfen auf dem Arbeitsmarkt einen durch Selbstkontrolle
beschränkten Gebrauch machen möge. Etwas ganz anderes aber, wie die
moderne Arbeiterbewegung, ist die Sozialdemokratie. Sie erklärt den
Massen, die bestehende bürgerliche Gesellschaft sei nicht imstande, die be-
rechtigten Forderungen der Arbeiter zu befriedigen, und deshalb müsse
der Staat von Grund aus neu aufgebaut werden. Es ist aber für die
bürgerliche Gesellschaft ganz außerordentlich gefährlich, wenn sie nicht
ihrerseits einen Unterschied zwischen der modernen Arbeiterbewegung und
der Sozialdemokratie macht. Es ist falsch, wenn gewisse Forderungen in
bezug auf Hebung der Sittlichkeit u. s. w. einfach als sozialdemokratische
Forderungen hingestellt werden. Das ist ein schwerer politischer Fehler,
der lediglich zur Stärkung der Sozialdemokratie beiträgt. Ich glaube
nicht, daß ich ein Chauvinist bin, aber ich habe die innere Ueberzeugung,
daß es doch kein Land gibt, wo im allgemeinen so geordnete soziale wirt-
schaftliche und politische Zustände herrschen, wie in Deutschland, und kein
Land, wo auch die unteren Volksklassen so viel wirtschaftliche und politische
Rechte haben. Demgegenüber fragt man: Wie ist es psychologisch er-
klärlich, daß in diesem Deutschland eine Partei mit drei Millionen
Stimmen bei den Wahlen auftreten kann, die unsere ganze Geschichte ver-
leugnet und sagt: „Das moderne Staatswesen ist durch und durch morsch
und muß von Grund aus neunu aufgebaut werden?“" Ich habe mit Aus-
ländern darüber gesprochen, und die haben mir gesagt, ja wir stehen vor
einem Rätsel. Wenn wir durch Deutschland reisen und diesen wachsenden
Wohlstand sehen, wenn wir überall wohlgekleidete Leute sehen, und wenn
wir sehen, was Deutschland auf sozialem Gebiete geleistet hat, wie dem-
gegenüber diese Partei vorhanden sein kann. Ich will gewiß keine Schön-
färberei treiben; ich glaube, daß unsere Verwaltung auch in den lokalen
Instanzen noch manche kleinen Gesichtspunkte aus dem alten Polizeistaat
herübergenommen hat, die vielleicht in unsere Zeit nicht mehr passen. Ich
glaube ferner, daß mit dem wachsenden Wohlstand nicht die Opferfreudig-
keit gestiegen ist, die Großherzigkeit im wirtschaftlichen Leben, die die be-
sitzenden Klassen besitzen müssen. Die Bewegung der Sozialdemokratie
wurzelt unzweifelhaft in einer durchaus materialistischen Anschauung. Man
kann aber nicht leugnen, daß mit unserem wachsenden Reichtum auch in
unseren besitzenden Klassen ein Maß von materialistischer Weltanschauung,
von Genußsucht verbunden ist, daß die mich manchmal mit Trauer und
Bedauern erfüllt. Denn der eigentliche Grund, weshalb die bürgerliche
Gesellschaft nicht die Kraft hat, die Sozialdemokratie zu überwinden, liegt
darin, daß in weiten Kreisen ein Materialismus herrscht, dem sich kon-
geniale Erscheinungen zugesellen. Man kann die Sozialdemokratie nicht
mit Gesetzen oder großen Worten überwinden, sondern nur, wenn man in