Bie ssterreichischungarische Monarchie. (Oktober 1.—6.) 173
1. Oktober. (Ungarn.) Der dritte Jahrgang der aus Un-
garn rekrutierten Mannschaft wird nicht entlassen, sondern bis zum
31. Dezember zurückbehalten.
5.|6. Oktober. (Cisleithanien.) Abgeordnetenhaus. De-
batte über das allgemeine Wahlrecht.
Die Tschechen stellen einen Dringlichkeitsantrag auf Einführung des
allgemeinen Wahlrechts. Abg. Kramarsch (Tsch.): Der Staat müsse die
Volksmassen im eigenen Interesse heranziehen. Die Furcht vor Nicht-
bewilligung der Notwendigkeiten des Staates, besonders der Militärlasten,
sei unbegründet. Das Volk werde vielmehr dadurch, daß es gewissenlosen
Agitatoren entzogen werde, ein erhöhtes Interesse an den Staatsnotwendig-
keiten gewinnen, und es werde die durch die Privilegien des Adels und
des Großgrundbesitzes gehemmte Entwickelung des Staates ungleich besser
fördern. Auch der Abschluß des nationalen Friedens werde nicht eher
ermöglicht werden, als bis das Privilegium im Parlament aufgehört hat,
denn ein Friedensschluß zwischen Privilegierten und Unterdrückten sei un-
möglich. Er glaube nicht, daß der Ministerpräsident sich in die ungarischen
Wahlangelegenheiten eingemischt habe, er übe jedoch indirekt Einfluß dar-
auf aus, wenn er sich hier gegen das allgemeine Wahlrecht in Oesterreich
ausspreche. Er erwarte von der Einführung des allgemeinen Wahlrechts
hüben wie drüben einen günstigeren Boden f die Regelung des Verhält-
nisses zwischen den beiden Reichsteilen.
Am folgenden Tage erwidert Ministerpräsident v. Gautsch: Die
Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten, geheimen Stimmrechtes sei
eine Frage von so überaus weitgehender, ja grundstürzender Bedeutung
für alle öffentlichen Angelegenheiten, daß sie nur mit großem Ernste, mit
der größten Objektivität, nur nach reiflicher Prüfung gelöst werden könne.
Er habe den Eindruck gewonnen, daß die Flagge des allgemeinen Stimm-
rechtes politische Ware von ganz verschiedener Art decke. (Lebhafte Zu-
stimmung.) Der Abg. Kramarsch hat bei den Einschränkungen hinsichtlich
der Steuerleistung die Bevölkerungszahl außer acht gelassen sowie den Um-
stand, daß es sich nicht um Länder, sondern um die sie bewohnenden
Nationalitäten handele. Es wäre keine glückliche Lösung, wenn irgendeine
Nationalität des Reiches durch das allgemeine Stimmrecht um jene Ver-
tretung im Abgeordnetenhause käme, die sie nach ihrer kulturellen und
geschichtlichen Bedeutung zu beanspruchen berufen sei. In solchem Falle
bilde das allgemeine Stimmrecht nicht nur ein gefährliches, sondern ein
sehr kurzlebiges Experiment. Das österreichische Parlament sei nicht nur
die Vertretung der Parteien und einzelner politischer Anschauungen, son-
dern auch die Vertretung der Nationalitäten. Der Regierung liege es ob,
die überkommene geschichtliche Geltung der Nationalitäten nicht außer acht
zu lassen. Sollten aber die Vertreter der österreichischen Völker selbst alles
für unnötig halten, was sie bisher als Bürgschaft ihres berechtigten Ein-
flusses im Parlamente festhielten, und was den Nationalitäten Schutz vor
Majorisierungen bot, dann würden auch bei der Regierung die wichtigsten,
gegen die Einführung des allgemeinen Wahlrechtes sprechenden Besorgnisse
schwinden. In England bestehe bisher das allgemeine gleiche Stimmrecht
nicht. Deutschland habe es zwar für den Reichstag als Erbschaft der Ein-
heitsbestrebungen des Jahres 1848 übernommen, doch fehle es auch hier
nicht an Versuchen, die nivellierende Macht des allgemeinen Stimmrechtes
abzuschwächen. Das allgemeine Wahlrecht bestehe eigentlich nur in Deutsch-
land und Frankreich, zwei Staaten, die auf einheitlicher nationaler Grund-