Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einundzwanzigster Jahrgang. 1905. (46)

176 Bie Sterreiczisch-ungarische Mssarchie. (November 14. 17.) 
welche ruhigster und reiflichster Ueberlegung bedarf; Beweis dessen die 
Vielheit und Verschiedenartigkeit der Vorschläge, die selbst von bedingungs- 
losen Anhängern des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes in 
bezug auf die praktische Gestaltung der Einzelheiten vorgebracht wurden. 
Vor allem ist für diese Arbeit eines unerläßlich: die Ruhe des öffentlichen 
Lebens; denn während leidenschaftlicher Volksbewegungen kann diese Arbeit 
nicht geleistet werden. Die Vorgänge der letzten Wochen, besonders aber 
jene in Wien, machen es notwendig, auf diesen Umstand nachdrücklich hin- 
zuweisen und diejenigen, die am lebhaftesten für eine weitgehende Reform 
eintreten, darauf aufmerksam zu machen, daß deren Schicksal zum Teile 
auch in ihrer Hand liegt. Wenn die Regierung darauf bedacht ist, das 
Verlangen nach einer zeitgemäßen Umgestaltung des Wahlrechtes zu fördern 
und seiner Erfüllung zuzuführen, so ist sie auch verpflichtet, um künftiger 
Aenderungen des öffentlichen Rechtes willen nicht die öffentliche Ordnung 
stören zu lassen und Auflehnungen gegen die Gesetze, wie sie in der letzten 
Zeit vorgekommen sind, hintanzuhalten. In der Bewegung, deren Lärm 
seit einiger Zeit die Straßen erfüllt, muß das politische Moment von dem 
der Gewalttätigkeit und Gesetzwidrigkeit unterschieden werden. Die Regie- 
rung wird der politischen Bewegung keine Schranken setzen; weder der Er- 
örterung in der Presse noch in den Versammlungen. Die politische Agi- 
tation für die Idee der Wahlrechtsreform soll sich innerhalb des Gesetzes 
ungehemmt entfalten. Aber andrerseits darf nichts geschehen, was Unruhe 
und Aufruhr im Gefolge hat. Gewalttätigkeiten und Zerstörungen, Auf- 
lehnungen gegen die öffentliche Ordnung müssen unterbleiben, und die Re- 
gierung ist entschlossen, mit allen gesetzlichen Mitteln solche, das öffentliche 
Leben schädigenden und das Ansehen des Staates herabsetzenden Ausschrei- 
tungen entgegenzutreten. Wem es um politische Entwickelung, um Fort- 
bildung des Verfassungsrechtes, um Erweiterung des Wahlrechtes zu tun 
ist, der wird diesen Zielen am besten dienen, wenn er allen seinen Einfluß 
aufbietet, um Vorfälle, wie sie sich jüngst zum allgemeinen Bedauern er- 
eignet haben, hintanzuhalten. Es liegt im Interesse der Volkskreise, die 
diese Reform wünschen, durch ihr Verhalten zu bezeugen, daß sie in jedem 
Sinne politisch reif sind — auch für ein neues Wahlrecht. Das Parlament, 
nicht die Straße ist der Ort, wo die Entscheidung darüber zu fallen hat.“ 
14. November. (Cisleithanien.) Die Obstruktion der 
Eisenbahner, die den Güterverkchr in Böhmen und auf benach- 
barten Strecken lahmgelegt hat, wird durch Lohnerhöhungen bei- 
gelegt. 
14. November. (Wien.) Der König von Spanien besucht 
den Kaiser Franz Joseph. 
17. November. (Mähren.) Der Landtag genehmigt eine 
neue Wahlordnung. 
Die nach mehrjähriger Vorbereitung beschlossene Wahlordnung ent- 
hält fünf Kurien: Großgrundbesitz, Handelskammern, Städte, Landgemeinden, 
Kurie des allgemeinen Wahlrechts. Die Kurien sind national geteilt, 
Deutsche und Tschechen werden in getrennten Katastern eingetragen und 
wählen getrennt. Der Großgrundbesitz wählt nach einem sehr verwickelten 
Proportionalwahlsystem 10 Tschechen und 20 Deutsche, die Stadtkurie 
20 Tschechen und 20 Deutsche, die Handelskammern von Brünn und Ol- 
mütz 3 Tschechen und 3 Deutsche, die Landgemeinden 39 Tschechen und
	        
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