Frankreich. (Juni 16.—Juli 10.) 215
lischen öffentlichen Meinung vielleicht einen baldigen Krieg gewünscht hätte,
um Deutschland zur See noch vor seiner vollen Entwickelung zu schlagen,
und daß die Unterstützung seitens Frankreichs in einem solchen Kriege für
England nützlich wäre. Aber wenn England einen solchen Plan wirklich
gefaßt hätte, müßte es sich doch sagen, daß eine große Nation wie Frank-
reich Herrin ihrer Entschließungen ist und sich nicht in einen Krieg ein-
lassen könnte, um die Geschäfte einer dritten Macht zu besorgen. Darüber
kann es in Frankreich nur eine einzige Ansicht geben. Und wenn wir über
die gütliche Regelung unserer kolonialen Schwierigkeiten mit England er-
freut waren, so konnte dieses genau umgrenzte Abkommen uns nicht weiter
fortreißen, da ja überdies eine englische Allianz nach dem Geständnis der
Engländer selbst nicht imstande wäre, uns kontinentale Bürgschaften zu
leisten, welche wir anderwärts suchen müßten. Uebrigens ist England in
keiner Weise berechtigt, uns Verlegenheiten zu bereiten. Das Abkommen
vom 8. April 1904 ist ehrlich durchgeführt. Es ist nicht die Schuld Eng-
lands, wenn wir bisher daraus keinen Nutzen gezogen haben. Man kann
unmöglich gestatten, daß England uns auf dem ohnehin schwierigen Wege
zu einer friedlichen Regelung der marokkanischen Angelegenheit noch Hinder-
nisse auftürmen will.“
In vielen Blättern wird die Besorgnis vor einem Kriege mit
Deutschland Marokkos wegen ausgesprochen.
16. Juni. Unterstaatssekretär Merlou übernimmt das Finanz-
ministerium, da Rouvier das Auswärtige behält.
2. Juli. Das Berggesetz, das den Maximalarbeitstag bis
1910 auf neun Stunden, von 1910 ab auf acht Stunden festsetzt,
tritt in Kraft.
3. Juli. Die Kammer genehmigt nach einigen stürmischen
Sitzungen das Gesetz über Trennung von Staat und Kirche mit
341 gegen 233 Stimmen.
Anfang Juli. Die vom Abg. Jaures geplante Reise nach
Berlin wird von den nichtsozialistischen Blättern meist abfällig
kritisiert. Seine Tätigkeit werde die Beziehungen wieder verwickeln.
(Vgl. S. 104.)
9. Juli. (Brest.) Besuch einer englischen Flotte, die mit
großem Aufwand gefeiert wird.
10. Juli. Folgende Aktenstücke über die Verhandlungen zwi-
schen Frankreich und Deutschland über Marokko werden veröffentlicht:
Schreiben des Ministerpräsidenten Rouvier an den Fürsten Radolin
vom 8. Juli:
„Herr Botschafter! Die Regierung der Republik ist durch die Be-
sprechungen, die zwischen den Vertretern beider Länder sowohl in Paris
wie in Berlin stattgefunden haben, zu der Ueberzeugung gelangt, daß die
kaiserliche Regierung auf der vom Sultan von Marokko vorgeschlagenen
Konferenz keine Ziele verfolgen wird, welche die berechtigten Interessen
Frankreichs in diesem Lande in Frage stellen oder im Widerspruche stehen
mit den Rechten Frankreichs, die sich aus dessen Verträgen (oder Arrange-
ments) ergeben und sich mit folgenden Grundsätzen im Einklang befinden: