256 Nußland. (Januar 19.—22.)
sichern. Das sei aber nicht als Aufhebung des ständischen bäuerlichen Ge-
richtes aufzufassen, dessen bisherige Isolierung in anderer Weise behoben
und dessen Selbständigkeit auf andere Art gesichert werden könne.
19. Januar. (Petersburg.) Beim Salutschießen zur Feier
der Wasserweihe wird ein scharfer Schuß auf das Winterpalais
abgegeben. Mehrere Kartätschkugeln schlagen in einem Zimmer ein.
22. Januar. (Petersburg.) Blutiger Zusammenstoß zwi-
schen Arbeitern und Militär. Vergeblicher Versuch der Arbeiter,
zum Zaren zu gelangen.
In den Kreisen der streikenden Arbeiter Petersburgs wird be-
schlossen, dem Zaren durch eine Massendeputation eine Bittschrift zu über-
reichen mit politischen und sozialen Forderungen. Führer der Bewegung
ist der Pope Gapon. Es werden verlangt Maßnahmen zur Beseitigung
der Rechtlosigkeit und der Armut der Bevölkerung und Vorkehrungen gegen-
über der Bedrückung der Arbeit durch das Kapital. Garantien der per-
sönlichen Sicherheit, Freiheit des Wortes, Gewährleistung des Versamm-
lungsrechtes und der Gewissensfreiheit, obligatorischer Schulbesuch auf
Staatskosten, eine Volksvertretung, Gleichheit aller vor Gericht, Verant-
wortlichkeit der Minister, Beseitigung der Ablösungszahlungen der Bauern,
Verbilligung des Kredits, allmähliche Verteilung der Staatsdomänen unter
das Volk, Einführung der Einkommensteuer für die gewerblichen Arbeiter.
Im besonderen: gesetzlicher Schutz der Arbeit, Freiheit der Konsumvereine
und anderer Vereine, der Achtstundentag, Zulassung des Kampfes der
Arbeit gegen das Kapital und staatliche Arbeiterversicherung.
Obgleich die Regierung die Kundgebung verbietet, und der Zar
nicht in Petersburg, sondern in Zarsskoje Selo weilt, brechen mehrere
Gruppen von je einigen Tausend Arbeitern nach dem Winterpalais auf.
An der Spitze marschiert Gapon mit einem Kreuz und dem Bilde des
Zaren in der Hand. Die Massen werden an den Newa-Uebergängen und
auf den Straßen vom Militär am Marsch auf das Winterpalais gehindert
und stark beschossen. Die Verluste werden amtlich auf etwa 400 tote und
verwundete Demonstranten angegeben, private Nachrichten geben als Mini-
mum mehrere Tausend an. — In den folgenden Tagen finden noch kleinere
Unruhen und Zusammenstöße statt; viele Studenten und Arbeiterführer
werden verhaftet, darunter Maxim Gorki, Gapon entflieht nach Frank-
reich, nachdem er folgende Proklamation erlassen hat: „Kameraden, russische
Arbeiter! Es gibt keinen Zaren. Zwischen ihm und der russischen Nation.
sind heute Ströme von Blut geflossen. Es ist hohe Zeit für Rußlands
Arbeiter, ohne ihn den Kampf für die nationale Freiheit aufzunehmen.
Ihr habt meinen Segen für diesen Kampf. Morgen werde ich bei euch
sein. Heute bin ich eifrig für die Sache tätig. gez.: Pater Georg.“
Am 23. erläßt die Regierung folgendes Manifest: „Zu Anfang des
Jahres 1904 wurden auf das Ersuchen einiger Fabrikarbeiter von St. Peters-
burg die Statuten der St. Petersburger Gesellschaft der Fabrikarbeiter be-
hördlicherseits bestätigt. Die Gesellschaft bezweckte zur Befriedigung der
geistigen und religiösen Interessen der Arbeiter beizutragen und letztere
von verbrecherischer Propaganda fernzuhalten. Zum Vorsitzenden wählten
die Arbeiter den Geistlichen des Deportationsgefängnisses Georgi Gapon.
Nach und nach begann die Gesellschaft, die Beziehungen der Arbeiter zu
den Arbeitgebern zu beraten und im Dezember 1904 veranlaßte sie die
Arbeiter zur Einmischung in die Frage der Entlassung von vier Arbeitern