Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einundzwanzigster Jahrgang. 1905. (46)

324 Nebersicht der politischen Entwickelnunz des Jahres 1905. 
gedrungen mit Deutschland über seine Marokkopolitik verständigen, 
wenn es nicht einen Bruch provozieren wollte. In den Verhand- 
lungen, die hierüber begonnen wurden (seit April), versuchte der 
französische Minister des Auswärtigen Delcassé, unterstützt von 
einem Teil der Presse, die Berufung auf die Madrider Konvention 
zu bestreiten und die deutsche Regierung in Widerspruch mit sich 
selbst zu bringen: sie habe den Vertrag zwischen England und 
Frankreich stillschweigend gebilligt, und es sei nicht loyal, jetzt nach 
Jahresfrist, wo Frankreich die Konsequenzen daraus ziehen wolle, 
dagegen aufzutreten. Die deutsche Regierung konnte erwidern, daß 
sie weder eine Billigung noch Verwerfung des Vertrags aus- 
gesprochen habe, weil er ihr nie offiziell mitgeteilt sei, daß sie erst 
Anlaß zu Erklärungen gefunden habe, nachdem Frankreich den im 
Vertrage aufgestellten Satz, die geltenden Zustände nicht ändern zu 
wollen, durch seine Zumutungen an den Sultan umgestoßen und 
die Rechte aller Madrider Vertragsmächte verletzt habe. Lange 
Zeit fand dieser Standpunkt in Paris kein Verständnis. Der 
französische Minister und die meisten französischen Zeitungen hatten 
sich in den Gedanken, Marokko müsse ein zweites Tunis werden, 
so eingelebt, daß sie in der deutschen Politik kein berechtigtes 
Interefse, sondern nur übelwollen gegen Frankreich entdeckten. Die 
Lage spitzte sich zu, als der Sultan schließlich die französischen For- 
derungen ablehnte und im Einklang mit dem deutschen Standpunkt 
den Unterzeichnern der Madrider Konvention vorschlug, eine Kon- 
ferenz in Tanger abzuhalten, um über die unvermeidlichen admini- 
strativen Reformen in seinem Reiche zu beraten (27. Mai). Deutsch- 
land stimmte natürlich sofort zu, aber die Frage war, ob Frank- 
reich die Befragung der Madrider Signatarmächte zugeben und 
damit seinen bisherigen Standpunkt verleugnen werde. Dem An- 
schein nach hat Delcassé die Absicht gehabt, den marokkanischen 
Vorschlag abzuweisen und dem Sultan, dem deutschen Einspruch 
zum Trotz, die französischen Vorschläge aufzuzwingen. Gestützt auf 
das Einvernehmen mit England, auf dessen Mitwirkung gegen 
Deutschland er weitgehende Hoffnungen setzte, mag er geglaubt 
haben, Deutschland würde vor einer entschlossenen kriegsbereiten 
Politik Frankreichs seinen Widerspruch aufgeben und so eine schwere
	        
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