Mebersicht der volitischen Entwi#zelung des Jehres 1905. 325
diplomatische Niederlage erleiden. Aber diese Politik fand nicht
die Billigung des Ministerrats. Eine Kriegsgefahr mit Deutsch-
land wollten die Minister Marokkos wegen nicht heraufbeschwören,
Delcassé wurde daher von seinen Kollegen zum Rücktritt gezwungen
(6. Juni). Der Sturz Delcaffés ließ erkennen, daß Frankreich
seinen grundsätzlichen Widerspruch gegen die Konferenz fallen ließ,
und es handelte sich nun darum, die Bedingungen zu finden, unter
denen Frankreich seine Zustimmung aussprechen konnte. Verhand-
lungen in Paris und Berlin führten bald zur Einigung. Deutsch-
land erkannte an, daß Frankreich als Nachbar Marokkos besonders
an der Herstellung der Ruhe im östlichen Marokko interessiert sei,
und daß ihm deshalb gewisse polizeiliche Befugnisse im Grenz-
bezirk einzuräumen seien unter der Voraussetzung, daß die Sou-
veränität und Integrität Marokkos sowie die wirtschaftliche Gleich-
berechtigung aller übrigen Nationen gewahrt bleibe. Über die
Ausdehnung der franzößischen Rechte und die sonstigen in Marokko
einzuführenden Reformen sollte die Konferenz entscheiden. Als
man hierüber einverstanden war, wurde ein offizielles Abkommen
geschlossen, in dem Frankreich die Einladung zur Konferenz an-
nahm und beide Mächte sich verpflichteten, jene Vorschläge dem
Sultan gemeinschaftlich als Programm für die Konferenz zu em-
pfehlen (8. Juli, erweitert am 28. September). Hiermit waren die
Zwistigkeiten, die einen Augenblick den europäischen Frieden be-
droht hatten, vorläufig erledigt. Die Verhandlungen, die noch
weiter geführt wurden, betrafen nur einige spezielle wirtschaftliche
Unternehmungen in Marokko, die Feststellung des Konferenzortes
und den Zeitpunkt ihres Beginns. Man kam überein, sie zu Be-
ginn des Jahres 1906 in Algeciras in Südspanien zu eröffnen. —
Die Spannung zwischen Deutschland und Frankreich ist damit frei-
lich noch nicht beendet worden. Allerdings hat die franzöfische
Presse im allgemeinen Delcasfsés Politik geopfert, und über den
gestürzten Minister sind auch von Blättern, die eine Tunifikation
Marokkos befürwortet hatten, herbe Urteile gefällt worden, aber
gegen Deutschland ist bis zum Jahresschluß ein unfreundlicher Ton
beibehalten worden. Der Argwohn, daß Deutschland den marokka-
nischen Streit provoziert habe, um Frankreich zu demütigen und