Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einundzwanzigster Jahrgang. 1905. (46)

Mebersicht der pelitischen Entwikelung des Jahres 1905. 327 
zusetzen. Die englische Regierung versicherte der deutschen, daß sie 
solche Erklärungen, wie der „Matin“ behauptete, niemals abgegeben 
habe, und auf beiden Seiten machte man sich das Ungeheuerliche 
eines deutsch-englischen Krieges immer mehr klar. In beiden Län- 
dern begannen private Kreise Agitationen, um den gehässigen Ton 
in der Presse zu beseitigen und die gemeinsamen kulturellen Inter- 
essen zu betonen. Beide Regierungen haben diese Bestrebungen 
wohlwollend gefördert. Alles in allem scheinen sich so die englisch- 
deutschen Beziehungen im abgelaufenen Jahre etwas gebessert zu 
haben. 
Eine andere internationale Frage von Bedeutung, die schon die 
letzten Jahre beschäftigt hat, ist die makedonische Verwaltungs- 
reform. Sie ist im Jahre 1905 insofern ein Stück vorwärts ge- 
bracht worden, als der Sultan gezwungen wurde, eine europäische 
Kommission zur Üüberwachung der Finanzverwaltung in den make- 
donischen Vilajets einzusetzen. Das Mandat der Bevollmächtigten 
der Großmächte ist einstweilen auf zwei Jahre bemessen, um durch 
diese Beschränkung die Souveränität des Sultans zu wahren. Der 
Sultan versuchte — offenbar beeinflußt durch den Zusammenbruch 
der russischen Macht — dem europäischen Konzert zu widerstreben 
und konnte erst durch eine Flottendemonstration zur Annahme der 
Kontrollkommission bewogen werden. An der Demonstration be- 
teiligte sich Deutschland nicht, aber es war mit der Forderung selbst 
einverstanden und riet in Konstantinopel dringend zur Nachgiebigkeit. 
Deutschland hatte, wie aus dem oben Gesagten hervorgeht, 
in der auswärtigen Politik ein unruhiges Jahr zu überstehen, aber 
es scheint, daß sich beim Jahresschluß seine Stellung, die sich im 
Jahre 1904 durch den russisch-japanischen Krieg und die englisch- 
französische Entente verschlechtert hatte, wieder etwas gehoben hat. 
Bemerkenswert ist, daß die öffentliche Meinung während der ma- 
rokkanischen Streitfrage durchaus begriff, daß es sich hier nicht nur 
um die Rettung eines deutschen Ausfuhrgebiets vor franzöfischer 
Okkupation handle, sondern daß auch die nationale Ehre engagiert 
sei, da England und Frankreich den Versuch gemacht hatten, ohne 
Befragung Deutschlands über seine Rechte in Marokko zu ent-
	        
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