328 NMebersicht der politischen Eutwicheli#s des Jahres 1905.
scheiden. Alle Parteien außer den Sozialdemokraten haben daher
im wesentlichen die Regierung unterstützt. Ebenso hat die öffent-
liche Meinung sich mehr und mehr davon überzeugt, daß die Re-
gierung im ostafiatischen Kriege eine durchans unparteiische Haltung
bewahrt hat, und der Argwohn, daß sie Rußland zu begünstigen
gestrebt habe, beginnt zu schwinden.
Naturgemäß beschäftigte sich die Offentlichkeit während der
unsicheren äußeren Lage mit der Frage, ob Deutschland einem
Kriege mit den Ententemächten gewachsen sei. Wie es nicht anders
sein konnte, fühlte man sich einem solchen Kriege zur See nicht
gewachsen, und die schon länger gestellte Forderung einer neuen
Flottenverstärkung wurde daher mit größerem Nachdruck er-
hoben (S. 92). Unabhängig hiervon hatte die Regierung bereits
angekündigt, daß sie in der Session 1905/6 die im Jahre 1900
gestrichenen Kreuzer nachfordern würde; im Herbst brachte sie in
der Tat eine solche Vorlage ein und verlangte überdies weitere
Mittel, um den zu bauenden Linienschiffen und Kreuzern größere
Dimensionen, stärkeren Panzer und schwerere Artillerie geben zu
können. Es sind Vorschläge, die durch die Erfahrungen des ost-
asiatischen Krieges und durch die Beobachtung, daß sämtliche Staaten
ihre Schiffe vergrößern und verstärken, veranlaßt worden sind.
Eine Entscheidung ist über diese Frage noch nicht getroffen, aber
grundsätzliche Gegnerschaft hat sich bei den maßgebenden Parteien
nicht gezeigt, vielmehr haben sich sogar einige Mitglieder der bisher
stets ablehnenden freisinnigen Volkspartei günstig ausgesprochen. —
Weniger als die Flottenverstärkung hat die zu Beginn des Jahres
verhandelte Heeresverstärkung die öffentliche Teilnahme erregt.
Man hat die Überzeugung, daß Deutschland zu Lande jedem Gegner
überlegen ist, und daß der Reichstag die wesentlichen Forderungen
bewilligen wird. Das Argument, das zur Zeit Bismarcks und bis
Mitte der neunziger Jahre eine große Rolle spielte, daß Deutsch-
land die Kosten für seine Armee und Flotte nicht aufbringen könne,
findet heute bei dem anhaltend gestiegenen Wohlstand kaum noch
Beachtung. Man rechnet daher fast gar nicht mehr mit der Mög-
lichkeit, daß militärische Differenzen zu einer Reichstagsauflösung
führen könnten, wie es bis 1893 wiederholt geschehen ist. Deshalb