Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einundzwanzigster Jahrgang. 1905. (46)

               Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 1.) 27
 
schen Getreidebaus in dieser Höhe uns als notwendig und ein Herunter- 
gehen unter diese Minimalsätze während der Vertragsverhandlungen von 
vornherein als indiskutabel erschien. Die Höhe der Getreidezölle bildete 
bekanntlich während unserer Verhandlungen über den neuen Zolltarif einen 
der umstrittensten Punkte. Die verbündeten Regierungen haben sich durch 
von rechts und links gegen sie gerichtete Angriffe nicht irre machen lassen, 
sondern sie haben festgehalten an den von Ihnen für angemessen erachteten 
Tarifsätzen. Ich verrate keine diplomatischen Geheimnisse, wenn ich Ihnen 
sage, daß es uns nur mit Mühe, mit großer Mühe gelungen ist, in den 
Handelsvertragsverhandlungen, namentlich den Verhandlungen mit Ruß- 
land und Österreich-Ungarn, die Minimalzölle in der von diesem hohen 
Hause beschlossenen Höhe durchzusetzen. Im Interesse unserer Landwirt- 
schaft haben wir diesen Kampf, diesen harten, langwierigen Kampf gekämpft 
und mit Erfolg gekämpft. Wir haben in diesen Vertragsverhandlungen 
Handelsverträge zu stande gebracht, und wir haben gleichzeitig eine wesent- 
liche Erhöhung der landwirtschaftlichen Zölle im Interesse unserer Land- 
wirtschaft nach verschiedenen Richtungen hin erreicht. Nun, m. H., kann 
ich es ja offen aussprechen, möglichstes Festhalten an dem System der 
Handelsverträge war für die Mehrheit der verbündeten Regierungen die 
conditio sine qua non bei der Erneuerung der Handelsverträge. Mehr 
zu erlangen wäre allerdings unmöglich gewesen. Das werden mir alle 
diejenigen bestätigen, die einen Einblick in die Handelsvertragsverhand- 
lungen und namentlich in die Handelsvertragsverhandlungen mit Rußland 
und Oesterreich-Ungarn gehabt haben. Wenn aber, m. H., von der anderen 
Seite geglaubt wird, daß durch die Getreidezölle in der von diesem hohen 
Hause beschlossenen und jetzt durchgesetzten Höhe die Lebenshaltung der 
breiten Schichten der Bevölkerung, und namentlich der arbeitenden Klassen, 
in unerträglicher Weise belastet werden würde, so dürfte dies, wie ich 
glaube, eine Besorgnis sein, die durch die bisherige Entwickelung der Tat- 
sachen nicht gerechtfertigt ist. Durch unseren neuen Konventionaltarif 
werden die neuen Zollsätze für die beiden Hauptgetreidearten im wesent- 
lichen auf diejenigen Zollsätze erhöht, die in den Jahren 1887 bis 1892 
bestanden haben. Damals aber befand sich unsere Industrie in einer 
Periode des Aufschwunge und sogar der Überproduktion. Es wird aber 
auch niemand leugnen können, daß sich während der letzten Dezennien die 
Lage der breiten Schichten der Bevölkerung in Deutschland — ich denke 
dabei an den kleinen städtischen Bürgerstand, ich denke an die Handwerker 
und Angestellten, vor allem aber an die lohnarbeitenden Klassen — wäh- 
rend der letzten Jahrzehnte gehoben hat, daß die ganze Lebenshaltung und 
Lebensführung dieser Klassen sich wesentlich gehoben hat. (Sehr richtig! 
rechts und in der Mitte. — Widerspruch links.) Wenn das bestritten 
werden sollte, dann verweise ich Sie auf die Statistik der Einkommen- 
steuer, die wachsenden Einlagen in die Sparkassen. Ich erinnere an das 
Wort Schmollers, der von einer förmlichen wirtschaftlichen Wiedergeburt 
des deutschen Arbeiters gesprochen hat. Dieser wirtschaftliche Aufschwung 
hat sich vollzogen in einer Periode, in der wir übergegangen sind vom 
System des Freihandels zum System des Schutzes der nationalen Arbeit 
und der Wiedereinführung und allmählichen Erhöhung der Getreidezölle. 
Und, m. H., wie liegt denn die Sache in Frankreich? In Frankreich spielt 
der Weizen für die Ernährung der arbeitenden Klassen bekanntlich eine 
größere Rolle als bisher bei uns. Trotzdem besteht in Frankreich seit 
Jahren ein Weizenzoll von 5,60 Mark für den Doppelzentner. Die Mehr- 
heit der französischen Deputiertenkammer, die eine republikanische, radikal- 
demokratische Mehrheit ist, innerhalb deren die sozialistische Gruppe eine
	        
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