Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einundzwanzigster Jahrgang. 1905. (46)

               Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 1.) 31 
zolls verteuert werden kann. Ohne diese Bindung würde Rußland immer 
ein bequemes Mittel in der Hand gehabt haben, willkürlich die Zollsätze 
zu verschieben. Meine Herren, wir haben uns auch entschlossen, das ober- 
schlesische Schweinekontingent von 1260 auf 2500 zu erhöhen. Auch dieses 
Zugeständnis ist an die ausdrückliche Bedingung geknüpft, daß seine Sus- 
pension jederzeit aus veterinärpolizeilichen Gründen erfolgen kann. Mit 
diesem Zugeständnis sind wir nicht nur einem besonderen Wunsche der 
russischen Regierung entgegengekommen, sondern auch den besonderen Wün- 
schen des oberschlesischen  Industriebezirke. Da dieses oberschlesische Schweine- 
kontingent nicht über die Grenzen jenes Bezirks ausgedehnt werden kann, 
ist die wirtschaftliche Rückwirkung dieses Zugeständnisses für unsere Gesamt- 
produktion an Schweinen nicht von erheblicher Bedeutung. In noch engerer 
Grenze hält sich das Zugeständnis, das wir durch Zulassung des Schweine- 
kontingents auf österreichisch-ungarische Schweine zur Abschlachtung in 
Schlachthöfen an der sächsischen und bayerischen Grenze gegenüber Öster- 
reich gemacht haben. Da die Schlachtungen in diesen Schweineschlacht- 
höfen sofort zu erfolgen haben, das Inland also nicht näher berühren, so 
schien dieses Zugeständnis vom veterinärpolizeilichen Standpunkt nicht be- 
denklich. Außerdem ist der Absatz dieser Schlachtungen nur zugelassen in 
einer gewissen Anzahl von Städten und Industriezentren in Sachsen, in 
Bayern und in dem thüringischen Hochlande, wo die Bevölkerung wegen 
ihrer raschen Zunahme im stande sein wird, es mit Leichtigkeit aufzunehmen. 
Die wirtschaftliche Rückwirkung auch dieser Konzession ist nur wenig er- 
heblich. Sie entspricht dagegen einem lebhaften Wunsche der österreichsch- 
ungarischen Unterhändler. Ob und wann Österreich-Ungarn in der Lage 
sein wird, diese ihm gemachte Konzession voll auszunützen, bleibt übrigens 
fraglich, da Österreich-Ungarn gegenwärtig, wie Sie wissen, zur Deckung 
seines Bedarfs an Schweinen genötigt ist, Schweine aus Deutschland zu 
beziehen. 
              Meine Herren, trotz dieser Zugeständnisse, die wir haben machen 
müssen, unterliegt es doch nicht dem geringsten Zweifel, daß die neuen 
Handelsverträge einen landwirtschaftlichen Charakter tragen. Sie bringen 
unserer Landwirtschaft eine erhebliche Verbesserung ihrer Gesamtverhält- 
nisse, verglichen mit dem bisherigen Gesamtzustand, eine Erhöhung des 
Schutzes für die landwirtschaftlichen Produkte in ihren Hauptzweigen. 
Mit dieser Absicht sind wir in die Handelsvertragsunterhandlungen ein- 
getreten, auf dieser Basis haben wir auch die Verhandlungen geführt. 
Wir durften aber dabei nicht die Möglichkeit außer Auge lassen, auch die 
Interessen unserer Industrie und des Handels entsprechend wahrzunehmen. 
Italien und Belgien hatten vor dem Eintritt in die Handelsvertragsunter- 
handlungen ihre Zolltarife nicht geändert. Diesen Ländern gegenüber 
spielten auch unsere landwirtschaftlichen Zollerhöhungen keine erhebliche 
Rolle. Deshalb ist es auch gelungen, gegenüber Italien und Belgien die 
Ausfuhrbedingungen für unsere Industrie in der Hauptsache auf der bis- 
herigen Höhe zu erhalten. Dagegen hatten Rußland, Rumänien, die 
Schweiz und auch Österreich-Ungarn vor dem Eintritt in die Handels- 
vertragsverhandlungen mit uns neue Zolltarife mit wesentlich höheren 
Sätzen aufgestellt. (Hört, hört! links.) Insbesondere war es voraus- 
zusehen, daß Rußland diese Gelegenheit benutzen würde, um seine Industrie- 
zölle für verschiedene Branchen weiter zu erhöhen. Seit 25 Jahren ist 
die russische Regierung bemüht, wo die Bedingungen irgendwie vorliegen, 
sich eine eigene Industrie zu schaffen. Meine Herren, daß das die Folge 
der von uns in den 80er Jahren eingeschlagenen Tarifpolitik sein würde, 
das hat niemand richtiger vorausgesehen, als der Urheber dieser Wendung, 
  
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.