Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einundzwanzigster Jahrgang. 1905. (46)

32        Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 1.) 
Fürst Bismarck. Ich erinnere mich, daß Fürst Bismarck — es muß im 
Jahre 1886 oder 1887 gewesen sein, und zwar während der damaligen 
Wirren — als er dem damaligen russischen Minister des Äußern Herrn 
v. Giers in Franzensbad einen Besuch abstattete, und dieser lebhaft klagte 
über die bevorstehende Erhöhung der deutschen Landwirtschaftszölle, der 
deutschen Agrarzölle, die nach seiner, des Ministers v. Giers, Ansicht Ruß- 
land schwer schädigen würden, ihm erwiderte: Ne pleurez pas! Weinen 
Sie nicht, unseren Agrarzöllen werden Sie eine russische Industrie zu ver- 
danken haben. (Heiterkeit.) Insbesondere ist Rußland seit 25 Jahren 
bemüht, durch allmähliche, planmäßige, zielbewußte Erhöhung seiner Eisen- 
zölle sich eine eigene Eisenindustrie großzuziehen. Deshalb ist auch die 
deutsche Ausfuhr an Eisenwaren aus Oberschlesien in stetem Rückgang be- 
griffen. Ähnlich liegen die Verhältnisse für andere Industriebranchen. 
Mit diesen Verhältnissen mußten wir rechnen. Wir konnten uns nicht der 
Illusion hingeben, daß Rußland im gegenwärtigen Stadium seiner Ent- 
wickelung sich würde bereit finden lassen, seine mit so großen Kosten ins 
Leben gerufenen industriellen Unternehmungen durch Herabsetzung von 
Zollschranken dem ausländischen Wettbewerb freizugeben. Trotz dieser in 
der Natur der Dinge begründeten Hindernisse ist es uns doch gelungen, 
die Interessen auch unserer Industrie und unseres Handels entsprechend 
wahrzunehmen. (Zurufe links.) Gewiß, m. H., es ist gelungen, denn eins 
dürfen Sie nicht vergessen, das ganze von uns auch jetzt weiter festgehal- 
tene System des Abschlusses langfristiger Handelsverträge wird doch in 
erster Linie von der Rücksicht auf die Interessen von Handel und Industrie 
diktiert. Um dieses System zu inaugurieren, wurden vor 12 Jahren die 
landwirtschaftlichen Zölle herabgesetzt. Wenn jetzt ein Ausgleich zu gunsten 
der Landwirtschaft geschaffen wird und die Landwirtschaft das wieder er- 
hält, was ihr damals genommen wurde, so ist das nicht eine Bevorzugung 
der Landwirtschaft, zumal für Handel und Industrie im wesentlichen die 
Bedingungen erhalten bleiben, deren sie zu ihrem Gedeihen bedürfen, denn 
der Abschluß der Handelsverträge bedeutet für Deutschland an und für 
sich eine wirtschaftliche Stärkung, deren segensreiche Folgen wiederum in 
erster Linie dem Handel und der Industrie zugute kommen werden. Durch 
den Abschluß des Handelsvertrages mit Rußland ist uns der Abschluß der 
anderen Handelsverträge mit Österreich-Ungarn, Rumänien und der Schweiz 
nicht nur erleichtert, sondern geradezu ermöglicht worden. Durch die Ver- 
einbarung einer zwölfjährigen Dauer für die Handelsverträge ist diejenige 
Stetigkeit und diejenige Stabilität der gegenwärtigen Bedingungen in dem 
wirtschaftlichen Güteraustausch geschaffen worden, welche für unsere Export- 
industrie geradezu eine Lebensfrage ist. Vor allem aber, m. H., haben 
wir Abstand genommen von der Kündigung der bestehenden Handelsver- 
träge. Dadurch, m. H., haben wir die Kontinuität unserer Handelsbezie- 
hungen zu Rußland gewahrt und unserer Industrie und unserem Handel 
diejenige Unsicherheit, diejenige Erschütterung erspart, die ihnen sonst, sehr 
zu ihrem Nachteil, gedroht hätten. Die neuen Handelsverträge sollen am 
15. Februar 1906 in Kraft treten, ich habe wenigstens die Absicht, sie am 
15. Februar 1906 in Kraft treten zu lassen. Unser Handel und unsere 
Industrie haben also ein Jahr Zeit, sich in die neuen Verhältnisse ein- 
zuleben. Gegenüber diesem Vorgehen, m. H., glaube ich nicht, daß man 
den verbündeten Regierungen Mangel an Rücksicht für die Interessen von 
Industrie und Handel mit Recht vorwerfen kann, wenn sich auch eine Reihe 
von erhöhten Industriezöllen nicht haben vermeiden lassen. Dazu kommt, 
daß Rußland in einigen allgemeinen wirtschaftlichen Fragen, die die Inter- 
essen unseres Handels und unserer Industrie sehr nahe berühren, uns Zu-
	        
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