Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 9./20.) 3 
gebaut werden. Vielleicht sei bei entfernten Verwandtschaftsgraden das 
Erbrecht aufzuheben. Abg. Raab (wirtsch. Vg.): Alle vorgeschlagenen in- 
direkten Steuern hätten einen aufrührerischen Charakter und begünstigten 
das Großkapital. Die Erbschaftssteuer sei zu begrüßen, aber daneben 
müßten eine Einkommensteuer, eine Wehrsteuer, eine Erhöhung der Börsen- 
steuer und der Luxussteuern eingeführt werden. 
11. Januar. Schatzsekretär v. Stengel: Die Regierung bestehe 
nicht auf der unveränderten Annahme sämtlicher Steuern; es ließe sich 
wohl eine durch eine andere ersetzen. Die Aufhebung der Branntwein- 
Liebesgabe werde die Preise des Trinkbranntweins und des gewerblichen 
Spiritus erhöhen; überdies sei es inopportun, an dem erst vor kurzem 
geschaffenen Kompromiß zu rütteln. Die Regierung habe noch immer 
große Bedenken gegen die Ausdehnung der Erbschaftssteuer. Abg. Patzig 
(nl.) will an Stelle der Verkehrssteuern eine direkte Besteuerung der Eisen- 
bahnverwaltung. Man solle auf jeden Betriebskilometer eine bestimmte 
Abgabe für das Reich legen. Preuß. Finanzminister v. Rheinbaben: 
Die Ausführung dieses Gedankens würde die Finanzgebarung aller Einzel- 
staaten unmöglich machen. 
12. Januar. Abg. Osel (Z.) lehnt eine Weinsteuer als verfassungs- 
widrig ab. Abg. Geyer (Soz.) polemisiert gegen den preuß. Finanz- 
minister, der über die Besteuerung der Arbeiter durch die sozialdemokra- 
tische Organisation unrichtige Angaben gemacht habe. Abg. Riff (fr. Vg.) 
lehnt im Namen der Elsaß-Lothringer die Ausdehnung der Erbschaftssteuer 
ab, weil dort schon eine Steuer für Deszendenten und Ehegatten bestände. 
13. Januar. Staatssekretär Frhr. v. Stengel verteidigt die Tabak- 
und Brausteuer und verspricht für die Kommission weitere Mitteilungen. 
Nach weiterer Debatte werden die Vorlagen an eine Kommission verwiesen. 
9./20. Januar. (Bayerische Abgeordnetenkammer.) Mi- 
litäretat. Patriotismus, Kommandierungen nach Preußen, Staats- 
recht, Mißhandlungen. 
Abg. Schmitt (Soz.) tadelt, daß preußische Offiziere die bayerischen 
Truppen inspizierten. Kriegsminister v. Horn: Das Recht der Inspizie- 
rung stehe dem Deutschen Kaiser zu, der bei Ausübung dieses Rechtes 
Bayern gegenüber mit dem größten Wohlwollen verfährt. Abg. Roll- 
wagen (Soz.): Die Arbeiterklasse habe kein Interesse an der Erhaltung 
des heutigen Militärsystems. Unser Vaterland ist dort, wo es uns gut 
geht. Hierauf erfolgen scharfe Erwiderungen von den anderen Parteien; 
am 11. erklärt Abg. v. Vollmar (Soz.), daß die Sozialdemokraten bei 
Bedrohung des Vaterlandes die besten Verteidiger sein würden, daß aber 
das Heer sich nicht zur Aufrechterhaltung einer hinfällig werdenden Klassen- 
herrschaft hergeben dürfe. Das Programm der Sozialdemokratie enthalte 
nichts über Zerstörung des Patriotismus und der Disziplin in der Armee. — 
Diese Aeußerung wird von den anderen Parteien als Desavouierung Roll- 
wagens aufgefaßt. — Abg. Geiger (Z.) findet es staatsrechtlich bedenklich, 
daß bayerische Truppen bei preußischen Manövern verwendet würden. 
Auch die Errichtung des Reichsmilitärgerichts werde als Einschränkung der 
bayerischen Militärhoheit schmerzlich empfunden; ernenne Bayern den 
Militäranwalt selbständig, wie es das Gesetz bestimme, oder hole es die 
Zustimmung des Kaisers ein? Kriegsminister Frhr. v. Horn: Die Be- 
rufung des Militäranwalts beim bayerischen Senate des Reichsmilitär- 
gerichts erfolge ohne Mitwirkung des Kaisers und lediglich aus selbst- 
verständlicher Courtoisie werde die Abberufung und Neubestellung nach 
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