Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

FJas Deuische Reich und seine einjeluen Glieder. (Mai 24. /26.) 117 
schiebt, die dem Kaiser vollständig fern liegen. Man hat ihr einmal eine 
Spitze gegen Italien und dann gegen England gegeben. Wir haben gar 
keinen Grund zu irgend einer Demonstration, denn beide Länder, Italien 
sowohl als England, stehen zu Oesterreich-Ungarn in sehr freundschaftlichen 
Beziehungen, und wir begrüßen diese rückhaltlos. (Geifakl) Die Zeit der 
Mißstimmung zwischen Deutschland und England ist vorüber, der warme 
Ton, der anläßlich der letzten Anwesenheit der Vertreter deutscher Städte 
in England aus den Aeußerungen englischer Staatsmänner zu uns herüber- 
klang, wird jedenfalls bei der Kaiserlichen Regierung und sonst allerorten 
die wärmste Aufslahme finden. (Lebhafte Zustimmung.) Die Regierung 
vertritt nach wie vor die Politik des europäischen Friedens. Bei scharfer 
Wahrung ihrer eigenen Interessen unter Ausgestaltung freundschaftlicher 
Beziehungen zu allen auswärtigen Staaten wird sie voll Selbstvertrauen 
und auf eigenen Füßen stehend ihren Weg weiter gehen, ohne sich durch 
noch so geschickte Preßmanöver oder sonstige Verdächtigungen von ihrer 
Bahn abbringen zu lassen. (Beifall.) 
Abg. Bebel (Soz.) tadelt scharf die auswärtige Politik, die Deutsch- 
land isoliert habe, während die englische ein vortreffliches System von 
Bündnissen und Freundschaften geschaffen habe. Das Goluchowskitelegramm 
habe die frühere Popularität des Kaisers in Ungarn in das Gegenteil 
verwandelt; infolge der Zusammenkunft mit dem Zaren werde der Kaiser 
in Rußland für die reaktionäre Politik Rußlands mitverantwortlich ge- 
macht. Im Innern würden überall die Rechte der Arbeiter verletzt, so in 
Preußen, Hamburg. Die Russenausweisungen seien barbarisch und die 
Erklärungen des Ministers v. Bethmann im preußischen Abgeordnetenhause 
hätten die Paßfälschung umgangen. Abg. Böckler (Antif.) polemisiert 
gegen die Streiktaktik der Sozialdemokraten; sie rufe Aussperrungen hervor. 
Am 26. Mai kritisiert Abg. Bernstein (Soz.) das Verhalten der 
Breslauer Polizei, die am 21. April bei Streikunruhen mit großer Bru- 
talität vorgegangen sei. Polizisten hätten mit Revolvern geschossen, zum 
Beweise lege er eine Patrone auf den Tisch des Hauses nieder; einem 
unschuldigen Arbeiter sei eine Hand abgehauen, ohne daß der Täter von 
der Behörde festgestellt sei. Staatssekretär Graf Posadowsky bezweifelt 
die Darstellung des Vorredners, die von ihm vorgezeigte Patrone sei gar 
nicht abgeschossen. (Stürmische Heiterkeit.) Abg. v. Oldenburg (konfs.) 
polemisiert gegen die Sozialdemokraten und die fortschreitende Demokrati- 
sierung. Auf eins aber möchte ich die Aufmerksamkeit des Staatssekretärs 
Graf Posadowsky lenken: daß man nicht nur dem deutschen Reichstage 
das Sicherheitsventil abgenommen hat, sondern daß auch die einzelnen 
Regierungen kleiner Bundesstaaten sehr lebhaft mit dieser Operation be- 
schäftigt sind, indem sie, ohne Rücksicht zu nehmen oder sich in Verbindung 
zu setzen mit dem Königreich Preußen (Hört, hört! links) oder mit anderen 
Staaten, ihre Verfassung auf die radikalste Basis stellen. Das bedeutet 
eine Verschiebung der ganzen Basis, auf welcher das Deutsche Reich ge- 
gründet ist. Das Deutsche Reich ist entstanden durch eine Vereinbarung 
der deutschen Fürsten, die die Sanktion der Einzellandtage gefunden hat. 
Beschworen ist diese Verfassung nicht, und Fürst Bismarck hat auf dem 
Standpunkt gestanden, daß, wenn die Institution des Reiches sich nicht 
bewähren sollte, auf diese Weise die Möglichkeit gegeben wäre, das ganze 
Verhältnis zu revidieren durch eine Vereinbarung mit den Einzelstaaten. 
Die Einzelstaaten, die ihrer Verfassung nach selbständig sind, vertrauen. 
auf die preußischen Bajonette. Das hat aber zwei Bedenken. Erstens 
ist der Platz auf den Bajonetten immer ungesund. Das zweite Bedenken 
aber ist das: Wenn die preußischen Bajonette einmal in Funktion getreten
	        
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