Vas Deuische Reich und seine einzeluen Slieder. (November 14./15.) 181
und auf unsere Stellung in der Welt. Ich behalte mir dabei vor, auf
manche Punkte, die der Herr Abg. Bassermann in seiner Begründung der
Interpellation berührt hat, im Laufe der Debatte zurückzukommen. Was
zunächst unser Verhältnis zu Frankreich angeht, so muß man, wie ich
glaube, unterscheiden zwischen dem, was vielleicht wünschenswert, und dem,
was nach Lage der Dinge möglich ist. Der Gedanke eines engeren An—
schlusses oder eines Bündnisses mit Frankreich, wie er hier und da in der
Presse auftaucht, ist, wie die Stimmung in Frankreich noch ist, nicht reali-
sierbar. Je weniger Illusionen wir uns in dieser Beziehung machen, um
so besser. Die Gründe hierfür liegen in Ereignissen der Vergangenheit,
die von uns und unseren westlichen Nachbarn verschiedenartig aufgefaßt
werden. Sie liegen auch in der Lebhaftigkeit des französischen Patriotis-
mus, die man, je nachdem, übertriebene Eigenliebe oder nachahmungs-
würdigen Nationalstolz nennen kann. Ich persönlich neige der letzteren
Auffassung zu. Ich habe vor vielen Jahren in Paris die Ehre gehabt,
einem sehr hervorragenden, einem großen Franzosen näher zu treten, und
ihm ein dankbares Andenken bewahrt, denn er war für mich, der ich da-
mals ein junger Botschaftssekretär war, menschlich gut und freundlich.
Das war Léon Gambetta. Ich erinnere mich, wie er mir eines Abends
in kurzen, markigen, lapidaren Zügen seine Haltung und sein Vorgehen
nach Sedan, als Mitglied der Regierung, der nationalen Verteidigung
schilderte, deren Seele er war. „Frankreich“, sagte er mir, „war in die
Knie gesunken, ich habe ihm gesagt: Erhebe dich und vorwärts! La France
était tombée à genoux, je lui ai dit: De bout et marche! In großen
Augenblicken“, fügte Gambetta hinzu, „hat derjenige, der Frankreich regiert,
das Gefühl, ein Thermometer in der Hand zu haben: Ein Druck der Hand
läßt das Quecksilber steigen oder fallen. Dans ces moments 1à, dans les
grands moments on peut tout faire de la France. In solchen Augen-
blicken, in großen Momenten kann man alles mit Frankreich machen."“
Als mir Gambetta das sagte, dachte ich junger Mensch mir innerlich:
Möchte, wenn je über das deutsche Volk eine ähnliche Katastrophe käme
wie damals über das französische Kaiserreich, unsere Nation Männer finden,
die mit gleich unbeugsamem Patriotismus weiter fechten bis zum bittersten
Ende. Ich möchte hierbei bemerken, daß es gerade diese Lebhaftigkeit des
französischen Patriotismus, der hochgespannte und starke Ehrgeiz des fran-
zösischen Volkes, also traditionelle und glänzende Eigenschaften unserer
temperamentvollen Nachbarn sind, die uns nötigen, militärisch en vedette
zu sein, um nicht nur das verlorene Gut an den Vogesen zu wahren, das
mit Strömen deutschen Blutes erworben wurde, sondern auch die endlich
so spät und so mühsam errungene Einheit der Nation, ihre endlich wieder
erworbene Machtstellung und Weltstellung. Ich vergesse nie das Wort,
das mir einmal ein geistreicher französischer Historiker und Diplomat,
Rothan, sagte: La paix de Westphalie, qui a fait la France et défait
I'’Allemagne! Der Westfälische Friede, der Frankreich gemacht und Deutsch-
land aufgelöst hat! Ich überlasse es unseren Historikern, ich überlasse es
jedeem denkenden Deutschen, hieraus die nötigen Schlüsse zu ziehen. Frank-
reich war ein in sich geschlossenes und gefestigtes Reich bereits zu einer
Zeit, als Deutschland und Italien noch geographische Begriffe waren; ein
festes Stück Marmor zwischen zwei lose gefügten Mosaikplatten. Daß bei
jedem oder fast bei jedem Zusammenstoß mit einem dieser beiden Nachbar-
länder, wenn dieses nicht noch von dritter Seite Unterstützung fand, Frank-
reich sich als der Stärkere erwies, war eine Art von Naturnotwendigkeit.
Die Leiter der französischen Politik von Richelien bis zu Napoleon III.
waren sich auch nicht im Zweifel über den Kausalzusammenhang zwischen.