182 Nas Feuische Reich und seine einjelnen Glieder. (November 14./15.)
dem Uebergewicht Frankreichs, der Prépondérance Igitime de la France,
wie es die Franzosen nannten, und der politischen Zerrissenheit, die in
den beiden Nachbarländern bestand. Daß er den italienischen und den
deutschen Einigungsprozeß nicht aufzuhalten vermochte, war der schwere
Vorwurf, der gegen Napoleon III. erhoben wurde. Daß er gerade diese
Seite der Politik des zweiten Kaiserreiches bekämpfte, gereichte Thiers zum
Ruhm. Wie die französische Politik Jahrhunderte hindurch bei inneren
deutschen Zwistigkeiten die Hand im Spiele hatte, indem sie für die zentri-
sugalen Strömungen und Elemente Partei nahm, brauche ich nicht weiter
auszuführen. Diese lange Periode französischer Mitarbeit in Deutschland.
kam 1870 zum Abschluß. Damals erlangte Deutschland nicht nur die ihm
in den Zeiten seiner Uneinigkeit und deshalb Ohnmacht entrissenen Grenz-
gebiete wieder, sondern es erlangte gleichzeitig die innere Einigkeit und die
Einheit nach außen. Diese letztere Errungenschaft wird noch wirksamer als
die Erwerbung von Metz und Straßburg verhindern, daß in Zukunft
deutsches Gebiet wieder der Tummelplatz fremder Kriegslust werde. Auch
Italien, Frankreichs anderer Nachbar, àê° kein Mosaikbild mehr. Es kann
sich heute als geeinte Großmacht und, durch den Dreibund gestärkt, Frank-
reich nähern, ohne die Besorgnis, dadurch von seinem mächtigen Nachbarn
abhängig zu werden. Es ist begreiflich, daß es dem stolzen französischen
Patriotismus schwer fällt, sich in diese Tatsachen der Gegenwart zu finden
und namentlich in das Erwachen und Erstarken eines deutschen Volks-
bewußtseins, das volle Gleichberechtigung mit anderen Völkern verlangt.
An dieser Sachlage hat auch der Marokkozwischenfall nichts geändert, wenn
sich dabei auch erfreulicherweise von neuem gezeigt hat, daß beide große
Völker in Frieden miteinander auskommen wollen. Ich höre manchmal,
es gäbe Franzosen, die ein näheres Verhältnis mit uns wünschten. Unter
vier Augen hat mir dieser oder jener Franzose ein intimes Verhältnis
mit Deutschland als erstrebenswert bezeichnet. Oeffentlich ist aber noch
keiner, kein Minister, kein Deputierter vor seinem Volk dafür eingetreten,
ich meine unter Voraussetzungen, die für uns annehmbar wären. (Zuruf
von links: Jaurèes!) Jaurès? Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.
(Große Heiterkeit.) Was aber zwischen uns und Frankreich sehr wohl
möglich ist, das sind korrekte Beziehungen. Ich hoffe und ich glaube, ich
kann sagen, wir hoffen alle ohne Unterschied der Partei von rechts bis
links, daß die Zahl der einsichtigen Franzosen, die einen Angriffskrieg
gegen Deutschland grundsätzlich verwerfen, zunehmen, die Zahl derer, die
den Krieg nur deshalb scheuen, weil er vielleicht im letzten Ende für Frank-
reich nachteilig verlaufen würde, abnehmen wird. Wir hoffen alle, daß
bei beiden Völkern die Einsicht fortschreiten wird, daß beide kein Interesse
daran haben, das ganze ungeheure Risiko und das ganze furchtbare Elend
eines Krieges auf sich zu nehmen, und daß den gegenseitigen Frieden nicht
zu stören im Interesse beider Teile liegt. Und was weiter möglich er-
scheint, ist, daß beide Völker auf wirtschaftlichem Gebiete, auf dem weiten
Gebiete der industriellen und finanziellen Unternehmungen sich begegnen
und zu ammenarbeiten, vielleicht auch einmal sich über diese oder jene
koloniale Frage verständigen. (Zustimmung rechts und in der Mitte.)
Ich bemerke dazu ausdrücklich, daß wir nicht daran denken, uns zwischen
Frankreich und Rußland oder zwischen Frankreich und England eindrängen
zu wollen, wir denken namentlich nicht daran, die Störung der Freund-
schaft zwischen den Westmächten zum Gegenstand unserer offenen oder heim-
lichen Bemühungen zu machen. Die französisch-russische Allianz ist seit
ihrem Bestehen keine Gefahr für den Frieden gewesen. Sie hat sich im
Gegenteil schließlich als ein Gewicht bewährt, das auch zum regelmäßigen.