Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

184 Das Ven#ische Reich und seine einzelnen Glieder. (November 14./15.) 
Feder hoffentlich vor Augen halten, daß, wenn man auch niemand zur 
Liebe zwingen kann, doch jedes der beiden Völker vollen Anspruch auf die 
Achtung des anderen hat. (Lebhafte Zustimmung auf allen Bänken.) Und 
wenn zweifellos in der Vergangenheit auf publizistischem Gebiet hüben 
und drüben gesündigt und viel gesündigt worden ist, so möge in Zukunft 
die deutsche wie die englische Presse beweisen, daß sie der Lanze des Achilles 
gleicht, welche die Wunden zu heilen vermochte, die sie geschlagen hatte. 
Es gibt keinen vernünftigen Menschen in Deutschland, der nicht aufrichtig 
ruhige Beziehungen zu England wünscht auf der Grundlage beiderseitiger 
Loyalität. In einem Artikel über den Besuch unserer Journalisten in 
England, den in einem deutsch-englischen Blatt ein deutscher Publizist ver- 
öffentlicht hat, der vor einigen Jahren in der vordersten Reihe unserer 
Burenfreunde stand, habe ich die zutreffende Bemerkung gefunden, es seie 
nicht Haß gegen England gewesen, welche seinerzeit in Deutschland die 
lebhafte Begeisterung für das Burenvolk erweckt haben, denn ein solcher 
Haß hätte selbst damals in Deutschland nicht bestanden. Der deutschen 
Burenbegeisterung hätte vielmehr deutsche Romantik und germanischer 
Idealismus zugrunde gelegen. Das ist richtig, das sage ich, der ich da- 
mals diesen Idealismus und diese Romantik, diese tiefgewurzelte Neigung 
unseres Volkes, politische Fragen als Gemüts- und Herzensangelegenheiten 
zu behandeln, bekämpft habe. In der sozialistischen Presse lese ich immer 
wieder, daß unsere Verteidigungsmaßnahmen zur See die Schuld trügen 
an der in England gegen uns herrschenden Verstimmung. Wie oft habe 
ich dargelegt, daß der Gedanke, als ob der Ausbau der deutschen Flotte 
sich gegen England richte, geradezu töricht ist — ich finde keinen anderen 
Ausdruck, um den Gedanken, als ob wir England gegenüber uns mit 
offensiven Absichten trügen, zu kennzeichnen, daß auch die Besorgnis mancher 
englischen Kreise vor einer gar nicht vorhandenen großen deutschen Flotte 
unfaßbar ist. Hat doch gerade bei dem Londoner Bankett zu Ehren unserer 
städtischen Vertretungen oder wenigstens in jenen Tagen ein englischer 
Minister mit Recht erklärt, daß England zurzeit die schlagfertigste und 
streitbarste Flotte besitze, die es je gehabt habe, und daß es diese Flotte 
auf ihrer jetzigen Höhe erhalten werde. Und noch vor einigen Wochen 
versicherte der Erste Lord der Admiralität öffentlich, die englische Flotte 
sei nie stärker gewesen als im gegenwärtigen Augenblick, wo sie stärker sei 
als irgend eine mögliche Kombination, die gegen England aufgebracht 
werden könnte. Also, wozu der Lärm? Wir denken nicht daran, eine 
Flotte zu schaffen, welche so stark wie die englische wäre, aber wir haben 
das Recht und die Pflicht, uns eine Flotte zu halten, die der Größe unserer 
Handelsinteressen entspricht, der Notwendigkeit, unsere überseeischen Inter- 
essen zu schützen und unsere Küsten zu verteidigen. (Zustimmung rechts 
und in der Mitte.) Warum sollen wir nicht ebensogut Schiffe bauen und 
eine Flotte halten dürfen wie andere Länder, wie Frankreich oder Amerika, 
wie Rußland oder Japan oder Italien oder England selbst? Ich habe 
gerade vor einem Jahr, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, an die 
Argumente erinnert, mit denen der damalige italienische Ministerpräsident 
Herr Fortis und der Präsident der amerikanischen Republik Herr Roose- 
velt auf die Notwendigkeit der Verstärkung der Flotten ihrer Länder hin- 
wiesen, und dabei gesagt, wir befänden uns genau in derselben Lage, das 
deutsche Volk und der Deutsche Kaiser haben keine kriegerischen Gelüste. 
Das Deutsche Reich ist seit seiner Wiedererrichtung bis auf den heutigen 
Tag mit allen Mächten in ununterbrochenem Frieden geblieben. Das 
gleiche läßt sich nur von wenigen anderen Staaten sagen. Für jeden, 
der sehen will, ist durch diese unsere Haltung während 35 Jahren der 
  
  
 
	        
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