Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

Das Fenlsqhe Reichh und seine einjelnen Slieder. (November 14./15.) 189 
ein innerlich kräftiges und gesundes Rußland ist wertvoll als Faktor zur 
Wahrung des Gleichgewichts in Europa und in der Welt. Dabei mischen 
wir uns aber in keiner Weise in die inneren russischen Verhältnisse ein. 
Dadurch unterscheidet sich ja gerade unsere Politik von der uns von man- 
cher anderen Seite empfohlenen Politik, daß wir bei inneren Wirren, 
Streitigkeiten und Gegensätzen benachbarter und befreundeter Länder nicht 
fanatisch Partei ergreifen (Zustimmung), sondern unsere Politik zuschneiden 
im Hinblick auf die allgemeine Weltlage und mit Rücksicht auf die Sicher- 
heit des eigenen Landes. Solche doktrinäre Parteinahme erscheint uns 
landesverderblich. (Bravo! in der Mitte und rechts.) So einfach und leicht 
ist unsere Stellung in Europa denn doch nicht, daß wir uns den Luxus 
gestatten könnten, uns unpolitischen Gefühlswallungen leichtsinnig hinzu- 
geben. Die Haltung der Sozialdemokratie in allen diesen Fragen ist vom 
nationalen Gesichtspunkte aus gerade so falsch, wie es die Haltung der 
französischen Emigrés während der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts 
war oder die Politik der heiligen Allianz und ihrer Anhänger vom Wiener 
Kongreß bis zum Krimkrieg oder, wenn ich an unsere preußische Geschichte 
denke, wie es das Treiben des sogenannten Eidechsenbundes war bei dem 
Kampf zwischen dem Ordenslande und den Polen. Dieselben Ursachen, 
dieselben Leidenschaften und Schwächen, dieselbe Unfähigkeit, die eigene 
Parteidoktrin und das eigene Parteiinteresse dem Wohle des Ganzen unter- 
zuordnen, rufen bei den Menschen eben immer wieder die gleichen Er- 
scheinungen hervor, ob es sich nun um einen Marquis des Ancien régime, 
einen Strauchritter des Mittelalters oder einen orthodoxen Marxisten der 
Jetztzeit wie Herrn Ledebour handelt. (Stürmische Heiterkeit.) Ich freue 
mich meinerseits konstatieren zu können, daß unsere Beziehungen zu Ruß- 
land gute und freundliche sind. Ich muß weit zurückgehen in meinen 
diplomatischen Erinnerungen, um auf eine Periode zu stoßen, wo die Be- 
ziehungen zwischen Deutschland und Rußland so normale, so ruhige und 
so korrekte waren wie heute. Ich möchte hierbei betonen, daß die wieder- 
holten Begegnungen zwischen unserm Kaiser und dem Kaiser von Rußland 
dazu beigetragen haben, jenes gegenseitige Vertrauen aufrecht zu erhalten, 
das eine der besten Bürgschaften des europäischen Friedens ist, und das 
hoffentlich zwischen den beiden großen Völkern immer aufrecht erhalten 
bleiben wird zum Wohle beider Reiche und des allgemeinen Friedens. Bei 
den Begegnungen zwischen den beiden Kaisern ist also von innerer russischer 
Politik nicht die Rede gewesen und namentlich nicht im Sinne reaktionärer 
deutscher Ratschläge, sie haben aber dazu beigetragen, von dem Verhältnis 
zwischen Deutschland und Rußland früher vorhandene Schatten von Miß- 
trauen und Verstimmung abzustreifen. Die beiden Monarchen, der deutsche 
und der russische Kaiser, haben heute einer vom andern die Ueberzeugung 
friedlicher, freundlicher und loyaler Absichten. Rußland braucht gegen- 
wärtig alle seine guten Kräfte für die Neuordnung seiner inneren Verhält- 
nisse. Nach dem Krimkrieg schrieb Fürst Gortschakow in einer berühmten 
Note: „La Russie ne boude pas, elle se recueille. Rußland schmollt 
nicht, es sammelt sich.“ Auch jetzt hält Rußland es offenbar für nützlich, 
sich in seinen auswärtigen Unternehmungen für einige Zeit eine gewisse 
Beschränkung aufzuerlegen. Seit Monaten schweben zwischen der russischen 
und der englischen Regierung Verhandlungen, die den Erfolg versprechen, 
daß für die zentralasiatischen Gebiete, wo alte russisch-englische Rivalitäten 
bestehen, namentlich über Tibet, Persien und Asfghanistan ein Ausgleich 
erzielt wird. In Tibet und Afghanistan haben wir überhaupt keine, in 
Persien nur wirtschaftliche Interessen. Die deutsche Politik hat keinen 
Grund, jene Verhandlungen zu stören oder ihr mutmaßliches Ergebnis 
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.