Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

190 Nas Veuische Reich und seine rinjeluen Glieder. (November 14./15.) 
scheel anzusehen. Sollten im weiteren Verlauf der Unterhandlungen deutsche 
Rechte und wohlerworbene Interessen in Frage kommen, so lassen loyale 
Erklärungen von beiden Seiten keinen Zweifel darüber, daß man unsere 
Rechte und Interessen achten wird. Leider kann ich mit dieser ruhigen 
Auffassung über ein russisch-englisches Abkommen nicht auf allgemeine Zu- 
stimmung rechnen. Erst neulich las ich, wie falsch es sei, eine Verminde- 
rung der Reibungsflächen zweier Großmächte in Zentralasien nicht mit der 
größten Unzufriedenheit zu verfolgen, da es im deutschen Interesse liege, 
daß Rußland und England sich wie Hund und Katze gegenüberständen. 
Und in demselben Artikel, der von dem Reichskanzler verlangte, daß er 
jenes russisch-englische Abkommen mit allen Kräften zu vereiteln suche, wurde 
fast in demselben Atemzug der deutschen Diplomatie der Vorwurf gemacht, 
daß sie eine Macht gegen die andere ausspiele und dadurch alle Mächte 
gegen uns mißtrauisch mache. Also auf der einen Seite soll es die Auf- 
gabe der deutschen Politik sein, gegen eine Verständigung zweier Mächte 
in Asien zu intrigieren; auf der andern Seite wird uns der Vorwurf ge- 
macht, dem Auslande durch unruhige Geschäftigkeit Anlaß zur Verdächti- 
gung der deutschen Politik zu geben. Wenn wir nach diesem Rezept ver- 
fahren und uns ohne genügenden deutschen Interessenanteil in fremde An- 
gelegenheiten einmischen wollten, so würden wir wirklich das Uebelwollen 
verdienen, das vielfach in der Fremde aus anderen Ursachen gegen Deutsch- 
land besteht. Das gehört jedoch in das Kapitel von der Verkennung der 
Grenzen einer verständigen deutschen Weltpolitik und gedankenloser Kritik- 
sucht, auf das ich nachher noch eingehen will. Unsere Beziehungen zu 
Japan werden wir auch fernerhin sorgsam pflegen. Japan hat sich durch 
die hervorragenden Leistungen seiner brillanten Armee und seiner tapferen 
Flotte seinen Platz unter den Großmächten errungen. Damit ist es nur 
dem Beispiel anderer großer Völker gefolgt und insbesondere unserem 
preußischen Beispiel. Denn auf dem Schwert beruht in erster Linie die 
Großmachtstellung eines Volks. Mit Eroberungsgelüsten und Expansions- 
plänen haben wir uns nie in Ostasien getragen. Ich habe schon am 
11. Juli 1900 als Staatssekretär des Aeußeren in meinem damaligen Rund- 
schreiben an die deutschen Bundesregierungen erklärt, daß wir keine Auf- 
teilung Chinas wünschten und keine Sondervorteile anstrebten. Daß wir 
in Ostasien nicht auf territoriale Eroberungen ausgehen, haben wir schon 
in dem deutsch-englischen Notenaustausch vom Oktober 1900 ausgesprochen, 
vor dem englisch-japanischen Bündnis. Wir hatten und wir haben in Ost- 
asien nur wirtschaftliche Ziele, Ziele, deren Erreichung wesentlich abhängig 
ist von der Erhaltung des Friedens, der Integrität Chinas und des Prin- 
zips der offenen Tür. Diese Ziele, die zu verfolgen wir gerade so be- 
rechtigt sind wie alle anderen in Ostasien interessierten Völker, werden wir 
auch weiter im Auge behalten. Ich freue mich, sagen zu können, daß die 
Haltung der chinesischen Regierung uns gegenwärtig keinen Anlaß zur 
Klage gibt, daß unser Handel in China seine Stellung neben dem Handel 
der übrigen dort interessierten Völker behauptet, und daß wir an eine 
weitere ruhige Entwicklung des chinesischen Reichs glauben, zum Besten 
von China selbst wie zum Besten des internationalen Handels und fried- 
licher Beziehungen zwischen allen handeltreibenden Völkern. Was unser 
Verhältnis zu Amerika angeht, so wird die große Mehrheit dieses Hohen 
Hauses mir recht geben, wenn ich sage, daß Deutschland und die Ver- 
einigten Staaten aus natürlichen wie aus historischen Gründen auf ein 
freundschaftliches Verhältnis hingewiesen werden. Die Grenzen beider Länder 
berühren sich nicht, ihre politischen Interessen stoßen nirgends feindlich auf- 
einander. Um die wirtschaftlichen Interessen auszugleichen, ist natürlich
	        
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