Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

192 Nas Veuische Reich und seine einjelnen Glieder. (November 14./15.) 
maten, Sire, besteht darin, daß er im richtigen Moment zu schmeicheln 
und im richtigen Moment einen Fußtritt zu geben versteht. Unser seliger 
Kaiser Nikolaus war ein großer Monarch, aber als er den Krimkrieg an- 
fing, hat er diesen weisen Grundsatz einen Augenblick aus den Augen ver- 
loren, deshalb bin ich hier.“ Es kommt also darauf an, das eine und 
das andere im richtigen Moment zu tun. Ein konsequent überhebender 
Ton, ungefüge Anremplungen des Auslandes, knotige Manieren wirken 
schon in der Presse schädlich, schädlicher, als sich viele Leute einbilden. Sie 
würden unberechenbare Konsequenzen haben, wenn ich in meiner verant- 
wortlichen Stellung einen solchen Ton anschlüge. Wenn man sich auf den 
Fürsten Bismarck berufen hat, so wird ein eingehendes Studium der Reden 
wie der Handlungen dieses unvergleichlichen Staatsmannes jeden davon 
überzeugen, daß dessen Größe nicht in sporenklingenden Kürassierstiefeln 
oder im rasselnden Pallasch bestand, sondern im rechten Augenmaß für 
Menschen und Dinge. (Sehr wahr!) Das Dogmatisieren des Fürsten Bis- 
marck ist übrigens nicht nur zu einer Manie, sondern beinahe zu einer 
Kalamität geworden. Das möchte ich einmal offen aussprechen. Wir 
laborieren an dem mißverstandenen Fürsten Bismarck. Da zeigt sich wieder 
unsere Neigung, alles zu einem System zu machen. In der Mitte des 
vorigen Jahrhunderts und namentlich in der Konfliktszeit war das Ideal 
des politisierenden Deutschen der Gelehrte, der Professor; der schwebte uns 
seit der Frankfurter Paulskirche als Lichtbild vor. Das burschikose Wesen, 
das Junkerliche und Militärische in Bismarck erregte zunächst Entrüstung 
— wir Deutsche entrüsten uns ja gern und leicht — man muß das in 
aufrichtig geschriebenen Memoiren aus jener Zeit nachlesen, wenn man es 
nicht selbst erlebt hat. Seit den ungeheuren Erfolgen des Fürsten Bis- 
marck ist der Professor etwas in Mißkredit gekommen. Dagegen denkt 
mancher Deutsche heutzutage, ein leitender Staatsmann müsse immer forsch 
und burschikos auftreten, immer und unausgesetzt kalte Wasserstrahlen ver- 
senden, immer und ausschließlich Kürassierstiefeln anhaben. Mit anderen 
Worten, jetzt wird Fürst Bismarck zum System erhoben, dabei aber ver- 
gessen, daß jede Zeit andere Mittel erfordert. (Sehr richtig! in der Mitte.) 
Alle, die mich persönlich kennen, wissen, daß ich meine unbegrenzte Ver- 
ehrung und Bewunderung für den großen Kanzler nie und vor nieman- 
dem, niemandem gegenüber je verleugnet, daß ich ihm auch nach seinem 
Sturz die Treue gewahrt habe. (Bravol rechts.) Aber gerade deshalb 
darf ich es aussprechen, daß auch der größte Staatsmann ein Sohn seiner 
Zeit bleibt. Die nach ihm kommenden Geschlechter können sich nicht darauf 
beschränken, seine Auffassung und seine Urteile, geschweige denn seine Allüren 
blind nachzubeten und nachzuahmen, sondern sie müssen mit der Entwicke- 
lung der Dinge gehen, die nie still steht und die auch das größte Genie 
nicht vorzeichnen und nicht einmal immer vorhersehen kann. Friedrich 
der Große war der erste Staatsmann seiner Zeit. Wenn aber Fürst Bis- 
marck nur friederizianische, d. h. spezifisch preußische Politik getrieben hätte, 
würde er die Einheit Deutschlands nicht begründet haben. Das trat am 
deutlichsten zutage bei den bekannten Differenzen zwischen Fürst Bismarck 
und unserem alten Kaiser wegen der zu stellenden Friedensbedingungen, 
im August 1866, in Nikolsburg. Nicht, daß es von den Bahnen Friedrichs 
des Großen abwich hat meines Erachtens Preußen vor hundert Jahren 
nach Jena und Tilsit geführt, sondern daß es im falschen Sinne, zu ängst- 
lich, in zu enger Weise an diesen Bahnen kleben blieb. (Sehr richtig!) 
Wenn die Entwicklung verlangt, daß wir über Bismarcische Ziele hinaus- 
gehen, müssen wir es tun, wenn auch Fürst Bismarck zu seiner Zeit unter 
scheinbar ähnlichen Verhältnissen anders geurteilt hat; die wahre Nachfolge
	        
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