194 Das Penisqhe Reiqh und seine einjelnen Glieder. (November 14./15.)
und die wir heute, das sage ich ganz offen, weniger als je entbehren
können. Die Klagen dürfen aber nicht in einer Weise erhoben werden,
die sie gegenüber der wirklichen Sachlage im Lichte phantastischer Ueber-
treibung erscheinen läßt, schon weil derartige Uebertreibung sich straft, indem
sie auch gegen berechtigte Kritik abstumpft. Die Kritik muß fruchtbar
wirken können. Deshalb sollen wir auch Kleinigkeiten und Nebensächliches
nicht aufbauschen, nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, nicht so über-
treiben, wie dies alte deutsche Art oder Unart ist, nicht über Strohhalme
stolpern. Wie übertrieben manche Klagen sind, geht ja schon daraus her-
vor, daß, während es im Inlande heißt, wir kämen immer mehr herunter,
wir würden von niemand mehr gefürchtet noch respektiert, im Auslande
ebenso fälschlich behauptet wird, daß Deutschland durch seine steigende
Machtentfaltung und sein tatsächliches Vorwärtskommen eine Bedrohung
für andere Länder wäre. Es wäre wirklich nicht zu verwundern, wenn
solcher Hyperkritik gegenüber den leitenden Personen schließlich zumute
würde, wie dem Bauer in der Fabel, der mit seinem Söhnchen und seinem
Esel zu Markte zieht. Erst reitet er selbst auf dem Esel, da sagen die
Vorübergehenden: Der faule Kerl, er reitet und sein armer Junge muß
laufen. Dann setzt er den Jungen auf den Esel, da heißt es: Der dumme
Kerl, er setzt sich der Sonne und dem Staub aus und seinen Bengel läßt
er reiten. Dann setzen beide sich auf den Esel, da beklagt man das arme
Tier und will Vater und Sohn beim Tierschutzverein denunzieren, bis
endlich, von so viel Kritik verwirrt, der Bauer den Esel auf die Schultern
nimmt und selbst trägt, d. h. das Dümmste tut, was er überhaupt machen
kann. (Heiterkeit.) Ist denn irgend ein Vorteil für die deutsche Politik
und die deutschen Interessen im Auslande davon zu erwarten, wenn z. B. ein
freisinniges Berliner Blatt in einem mir vorgelegten Artikel erklärt: „Wo
es sich um Schutz der Deutschen im Auslande handelt, würde man heute
wahrscheinlich erst fragen: Was ist der Mann, welcher Konfession gehört
er an, welcher Partei zählt er sich zu? Und wenn die Auskunft ver-
dächtig erscheint, dann läßt man ihn eben in der Patsche sitzen.“ Das ist eine
leichtfertige Unterstellung. Natürlich fehlt auch in diesem Artikel nicht
die schematische Berufung auf den Fürsten Bismarck. Wo sind denn die
Tatsachen, die dieses unseren gesamten aunsirheen Dienst herabsetzende
Urteil rechtfertigen könnten. (Bravol rechts.) Es ist mir wohl bekannt,
daß in einzelnen Fällen über mangelnden Schutz Deutscher im Auslande
geklagt worden ist. Bei näherer Untersuchung, an der ich es niemals habe
fehlen lassen, hat sich aber in der Regel herausgestellt, daß die Fälle falsch
dargestellt waren, oder daß es sich um ehemalige Deutsche handelte, die ihre
Staatsangehörigkeit längst aufgegeben hatten. (Hört, hört! in der Mitte.)
Der Schutz des Reiches wird jedem Deutschen ohne ulhen der Person,
der Konfessionen oder der Partei gewährt. Selbst in zweifelhaften Fällen ist
auch deutschen Sozialdemokraten nach Recht und Gesetz beigestanden worden.
In solchen wegwerfenden summarischen Urteilen kann ich eine sachliche
Förderung unserer nationalen Interessen nicht erkennen. (Sehr richtig!
rechts), sondern nur eine diese Interessen schädigende Tendenz. Wer sich
im Auslande umgesehen hat, der weiß, daß wir draußen im allgemeinen
über ein pflichttreues, seiner nationalen Aufgaben bewußtes Beamten-
personal verfügen. Ich erwarte, daß sich unsere Beamten auch durch
kränkende und ungerechte Angriffe, die sie über sich ergehen lassen müssen,
nicht in der Freudigkeit ihrer Diensterfüllung beirren lassen. Wo findet
sich aber anderswo eine so exzessive Kritik wie bei uns? Wird nicht auch
anderswo hier und da mit Wasser gekocht? Kommen nicht auch anders-
wo Unvollkommenheiten, Fehler und Mißstände vor? Sie werden aber