Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

Vas Denische Reich und seine einzeluen Glieder. (November 14./15.) 197 
als in den letzten Jahren. Ich brauche nur an die Verstimmungen und 
Spannungen nach dem Berliner Kongreß, an den Karolinenstreit, an den 
Fall Schnäbele, an den Samoastreit, an die Pariser Demonstration gegen 
König Alfons von Spanien im Jahre 1883 — ich war damals in Paris, 
die Situation war recht gespannt — zu erinnern, um klar zu machen, daß 
es auch in jener Zeit nicht an Ereignissen fehlte, die geeignet waren, ernste 
Besorgnisse zu erwecken und die öffentliche Meinung zu erregen. Ich gehe 
noch weiter. Unsere Stellung würde heute eine gesichertere und leichtere 
sein, als sie es in den 80er Jahren war, wenn wir nicht inzwischen die 
überseeische Politik inauguriert hätten. (Sehr richtigl) Nicht als ob ich 
geschmacklos genug wäre, mich mit dem Fürsten Bismarck zu vergleichen, 
sondern weil sich in Europa inzwischen die Dinge verschoben haben. Die 
Gefahr eines russischen Angriffs liegt nach menschlicher Berechnung heute 
weniger nahe, es ist weniger Neigung zu einem solchen vorhanden als in 
den Tagen des Generals Skobeleff oder der späteren Demonstrationen für 
Herrn Déroulede. In Oesterreich-Ungarn und Italien wurde damals öffentlich 
weniger gegen den Dreibund geredet, aber er hatte im stillen vielleicht einfluß- 
reichere und klügere Gegner. Vor allem war Deutschland selbst im Verhältnis 
zu seinen Freunden wie zu seinen Gegnern materiell weniger stark, als es heute 
ist. Was heutigen Tages unsere Stellung kompliziert und erschwert, das sind 
unsere überseeischen Bestrebungen und Interessen. Wären wir nicht in 
dieser Richtung engagiert, wenn wir in dieser Beziehung nicht verwundbar 
wären, würden wir auf dem Kontinent nicht allzuviel zu fürchten haben. 
(Hört, hört! links.) Dann wäre es auch leichter als heute, zwischen uns 
und England Mißverständnisse und Friktionen zu vermeiden. Sie wissen 
aber alle, meine Herren, daß die Ströme nicht rückwärts reisen, daß ein 
fünfzigjähriger Mann sich nicht in einen vierzigjährigen zurückverwandeln 
kann. Sie wissen, durch welche elementaren Triebkräfte — rasche Zunahme 
unserer Bevölkerung, gewaltiger Ausschwung unserer Industrie, Unter- 
nehmungslust und Wagemut unserer Kaufleute, das Wachstum in Gewerbe 
und Handel der Nation — überseeische Interessen für uns entstanden und 
wir in die Weltpolitik hineingeführt worden sind. Die Aufgabe unserer 
Generation ist es, gleichzeitig unsere europäische Stellung zu wahren, 
welche die Grundlage unserer Weltstellung ist, und unsere überseeischen 
Interessen so zu pflegen, eine besonnene und vernünftige, sich weise be- 
schränkende Weltpolitik so zu führen, daß die Sicherheit des deutschen 
Volkes nicht gefährdet und die Zukunft der Nation nicht beeinträchtigt wird. 
Gewiß ist die Erfüllung dieser Aufgabe keine leichte, das weiß niemand 
besser als ich. Wir können in schwierige Situationen kommen, wir können 
uns auch mehreren Gegnern gegenüber befinden. Das ist aber noch kein 
Grund zum Verzagen. Daß Situationen denkbar sind, wo wir nur auf 
unsere eigene Kraft angewiesen wären, ja meine Herren, darauf hat Fürst 
Bismarck, darauf hat Graf Moltke mehr wie einmal hingewiesen. „Ein 
starker Staat steht nur sicher auf sich selbst“, hat Graf Moltke vor diesem 
hohen Hause im Jahre 1888 gesagt. Ein großes Volk muß auf jede Lage 
gefaßt sein, und sein Geist muß ein solcher sein, daß es jeder Situation 
mutig und entschlossen entgegengehen kann. Der Abg. Bassermann hat 
soeben an meine Rede vom 5. April erinnert. Als ich damals zum letzten 
Male vor diesem hohen Hause stand, sagte ich mit Bezug auf die Kon- 
ferenz von Algeciras, welche nach mancherlei Fährlichkeiten, die sie dem 
Scheitern nahe gebracht hatte, zwei Tage später zum befriedigenden Ab- 
schluß gelangen sollte: „Es war ein ziemlich schwieriger Berg“, so sagte 
ich ungefähr, „den wir zu ersteigen hatten. Manche Uebergänge waren 
nicht ohne Gefahr. Eine Zeit der Mühe und Unruhe liegt hinter uns.
	        
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