No Veuische Reich und seine einzelnen Glieder. (November 14./15.) 199
sicher sein. Ich habe damals weiter gesagt, daß ich es auch nicht ablehnen
würde, selbst bei Kundgebungen Seiner Majestät des Kaisers, auf welche
sich, streng genommen, meine verfassungsmäßige Verantwortlichkeit nicht
erstreckt, die moralische Verantwortung zu übernehmen für die Rückwirkung
solcher Kundgebungen auf den Gang der großen Politik; denn ich sei dem
Bundesrat und diesem Hause verantwortlich für eine Führung der Ge-
schäfte, die nicht den inneren und äußeren Frieden des Reiches beein-
trächtigt. Wie sehr ich mir dieser Verantwortung bewußt bin, habe ich
mehr als bei einer Gelegenheit gezeigt. Ich erinnere nur an den Gang
der lippischen Frage. Der große Irrtum, in den bei der Behandlung
dieser Frage viele verfallen, ist, daß sie die Zustände, wie sie bei uns ver-
fassungsmäßig gegeben sind, und wie sie sich historisch entwickelt haben,
verwechseln mit Verhältnissen, wie sie in Ländern bestehen, wo das reine
parlamentarische Regierungssystem existiert. In solchen Ländern ist der
Monarch nur der formale Inhaber der staatlichen Gewalt. Le roi rägne,
mais il ne gouverne pas, wie Thiers gesagt hat. In Wirklichkeit ruht
die Staatsgewalt nur in den Händen der Minister, die von der jeweiligen
Kammermehrheit abhängig sind. Man kann über die Vorzüge sowie über
die Nachteile des parlamentarischen Regierungssystems sehr verschiedener
Ansicht sein. Es gibt Länder, wo mehr die Vorzüge hervortreten, wie
beispielsweise in England, wo das parlamentarische Regierungssystem seit
Jahrhunderten zu allgemeiner Zufriedenheit und zum Segen des Volkes
besteht. Es gibt auch Länder, wo mehr die Schattenseiten des parlamen-
tarischen Systems sich zeigen, denn ein Regierungssystem, welches für alle
Länder paßt, ist ebensowenig möglich wie ein Rock, welcher allen Menschen
paßt, oder eine Medizin, welche alle Leiden heilt. Bei uns ist das par-
lamentarische Regierungssystem schon deshalb nicht möglich, weil bei uns
keine der großen Parteien die absolute Mehrheit hat und auch nach unserer
ganzen politischen, wirtschaftlichen und konfessionellen Struktur voraus-
sichtlich auch in absehbarer Zeit nicht die Mehrheit haben wird. Aber
auch abgesehen von diesem durchschlagenden faktischen und praktischen Grunde
ist dieses parlamentarische Regierungssystem bei uns nicht Rechtens, und
wir wollen doch alle auf dem Boden des Rechtes bleiben, denn bei uns
sind die Minister nicht die Organe des Parlaments und der jeweiligen
Mehrheit, sondern die Vertrauensmänner der Krone. Die Regierungs-
anordnungen sind nicht die Anordnungen eines von dem Monarchen un-
abhängigen und von der jeweiligen Mehrheit des Parlaments abhängigen
Ministers, sondern sie sind Anordnungen des Monarchen. Die Korrektur
dieser Zustände und die Gewähr für eine verfassungsmäßige Ordnung der
Dinge liegt darin, daß die Regierungsanordnungen des Monarchen nur
so weit wirksam sind, als er einen Minister findet, der sie unter seiner
eigenen Verantwortung ausführt, der sich weigern kann, diese Anordnungen
auszuführen, der ihm erklären kann, wenn er dieses oder jenes verlangen,
tun oder sagen sollte, daß er nicht länger im Amte bleiben könne. Wie
weit ein Minister das persönliche Hervortreten, die Meinungs= und Gefühls-
äußerungen des Monarchen mit seiner Verantwortung decken will, ist
Sache des politischen Augenmaßes, des Pflichtgefühls gegenüber der Krone
und dem Lande und gehört in das Gebiet der politischen Imponderabilien.
Ich kann mir sehr wohl denken, daß ein Minister finden kann, daß ein
übertriebenes persönliches Hervortreten des Regenten, daß ein zuweit ge-
triebener monarchischer Subjektivismus, ein zu häufiges Erscheinen des
Monarchen ohne die ministeriellen Bekleidungsstücke, von denen die Weis-
heit des Fürsten Bismarck sprach, den monarchischen Interessen nicht zu-
träglich ist (Lebhafte Zustimmung links), und daß er dafür die Verant-