Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

No Veuische Reich und seine einzelnen Glieder. (November 14./15.) 199 
sicher sein. Ich habe damals weiter gesagt, daß ich es auch nicht ablehnen 
würde, selbst bei Kundgebungen Seiner Majestät des Kaisers, auf welche 
sich, streng genommen, meine verfassungsmäßige Verantwortlichkeit nicht 
erstreckt, die moralische Verantwortung zu übernehmen für die Rückwirkung 
solcher Kundgebungen auf den Gang der großen Politik; denn ich sei dem 
Bundesrat und diesem Hause verantwortlich für eine Führung der Ge- 
schäfte, die nicht den inneren und äußeren Frieden des Reiches beein- 
trächtigt. Wie sehr ich mir dieser Verantwortung bewußt bin, habe ich 
mehr als bei einer Gelegenheit gezeigt. Ich erinnere nur an den Gang 
der lippischen Frage. Der große Irrtum, in den bei der Behandlung 
dieser Frage viele verfallen, ist, daß sie die Zustände, wie sie bei uns ver- 
fassungsmäßig gegeben sind, und wie sie sich historisch entwickelt haben, 
verwechseln mit Verhältnissen, wie sie in Ländern bestehen, wo das reine 
parlamentarische Regierungssystem existiert. In solchen Ländern ist der 
Monarch nur der formale Inhaber der staatlichen Gewalt. Le roi rägne, 
mais il ne gouverne pas, wie Thiers gesagt hat. In Wirklichkeit ruht 
die Staatsgewalt nur in den Händen der Minister, die von der jeweiligen 
Kammermehrheit abhängig sind. Man kann über die Vorzüge sowie über 
die Nachteile des parlamentarischen Regierungssystems sehr verschiedener 
Ansicht sein. Es gibt Länder, wo mehr die Vorzüge hervortreten, wie 
beispielsweise in England, wo das parlamentarische Regierungssystem seit 
Jahrhunderten zu allgemeiner Zufriedenheit und zum Segen des Volkes 
besteht. Es gibt auch Länder, wo mehr die Schattenseiten des parlamen- 
tarischen Systems sich zeigen, denn ein Regierungssystem, welches für alle 
Länder paßt, ist ebensowenig möglich wie ein Rock, welcher allen Menschen 
paßt, oder eine Medizin, welche alle Leiden heilt. Bei uns ist das par- 
lamentarische Regierungssystem schon deshalb nicht möglich, weil bei uns 
keine der großen Parteien die absolute Mehrheit hat und auch nach unserer 
ganzen politischen, wirtschaftlichen und konfessionellen Struktur voraus- 
sichtlich auch in absehbarer Zeit nicht die Mehrheit haben wird. Aber 
auch abgesehen von diesem durchschlagenden faktischen und praktischen Grunde 
ist dieses parlamentarische Regierungssystem bei uns nicht Rechtens, und 
wir wollen doch alle auf dem Boden des Rechtes bleiben, denn bei uns 
sind die Minister nicht die Organe des Parlaments und der jeweiligen 
Mehrheit, sondern die Vertrauensmänner der Krone. Die Regierungs- 
anordnungen sind nicht die Anordnungen eines von dem Monarchen un- 
abhängigen und von der jeweiligen Mehrheit des Parlaments abhängigen 
Ministers, sondern sie sind Anordnungen des Monarchen. Die Korrektur 
dieser Zustände und die Gewähr für eine verfassungsmäßige Ordnung der 
Dinge liegt darin, daß die Regierungsanordnungen des Monarchen nur 
so weit wirksam sind, als er einen Minister findet, der sie unter seiner 
eigenen Verantwortung ausführt, der sich weigern kann, diese Anordnungen 
auszuführen, der ihm erklären kann, wenn er dieses oder jenes verlangen, 
tun oder sagen sollte, daß er nicht länger im Amte bleiben könne. Wie 
weit ein Minister das persönliche Hervortreten, die Meinungs= und Gefühls- 
äußerungen des Monarchen mit seiner Verantwortung decken will, ist 
Sache des politischen Augenmaßes, des Pflichtgefühls gegenüber der Krone 
und dem Lande und gehört in das Gebiet der politischen Imponderabilien. 
Ich kann mir sehr wohl denken, daß ein Minister finden kann, daß ein 
übertriebenes persönliches Hervortreten des Regenten, daß ein zuweit ge- 
triebener monarchischer Subjektivismus, ein zu häufiges Erscheinen des 
Monarchen ohne die ministeriellen Bekleidungsstücke, von denen die Weis- 
heit des Fürsten Bismarck sprach, den monarchischen Interessen nicht zu- 
träglich ist (Lebhafte Zustimmung links), und daß er dafür die Verant-
	        
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