Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

244 Lie österreichisch-ungarische Monarchie. (Februar 23.) 
nationalen Frage eingehend, betont der Ministerpräsident: Die Zusammen- 
setzung unseres Staates bringt es mit sich, daß die wahre Probe auf den 
inneren Gehalt und die Dauerhaftigkeit einer großen politischen Reform 
ihr Verhältnis zur nationalen Frage ist. Die Vorlage wird vielfach Un- 
zufriedenheit hervorrufen. Wer aber ohne Vorurteil die unendlichen 
Schwierigkeiten einer derartigen Vorlage in einem Nationalitätenstaate er- 
wägt, wird vielleicht anerkennen, daß der Regierung der Wille zur Ge- 
rechtigkeit nicht abgesprochen werden kann. Zur Lösung der nationalen 
Frage wendet die Regierung in erster Linie das Territorialprinzip an, 
indem sie, soweit als möglich, national einheitliche Wahlbezirke schuf und 
dabei bis auf die Ortsgemeinden herabging. Was die Form des Wahl- 
rechtes betrifft, so schlägt die Regierung ohne Ausnahme die direkte Wahl 
vor. (Beifall.) Von der Festsetzung der Wahlpflicht wurde, weil es dem 
Volksbewußtsein nicht entspricht und vielfach verwaltungstechnische Schwierig- 
keiten mit sich bringt, Abstand genommen. Angesichts der Möglichkeit einer 
größeren Agitation, der beträchtlichen Vermehrung der Wahlbezirke und 
des zu erwartenden Hervortretens von scharfen sozialen Gegensätzen, ent- 
schloß sich die Regierung, scharfe gesetzliche Maßregeln behufs Vermeidung 
von jeder Form illoyalen und terroristischen Einwirkens auf die Wähler- 
schaft vorzuschlagen. Die Regierung will, daß die Wahlen nicht allein 
allgemein sind, sondern daß sie auch frei bleiben. (Lebhafter Beifall.) Das 
aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgegangene Haus muß auch seiner 
Aufgabe gerecht werden. Deshalb schlägt die Regierung eine Aenderung der 
Geschäftsordnung behufs Sicherung einer beschleunigten Arbeitskraft vor. 
Was die von der Regierung ins Auge gefaßte Reform des Herrenhauses 
betrifft, so sprechen die Gruppen des Herrenhauses sich gegen eine solche 
aus. Dagegen liegt eine wünschenswerte Ergänzung des allgemeinen 
Stimmrechts darin, daß die Mitglieder des Herrenhauses auch wählbar 
im Abgeordnetenhause sind, wobei während der Mandatsdauer für das 
Abgeordnetenhaus die Mitgliedschaft im Herrenhause zu ruhen hätte. — 
Auf die Frage der künftigen Mehrheitsverhältnisse sowie der Beziehungen 
der Wahlreform zum nationalen Besitzstande übergehend, führt der Minister- 
präsident aus: Auch im neuen Hause wird kein Volksstamm für sich allein 
die Majorität haben. Die Zukunft Oesterreichs beruht darauf, daß die 
Volksstämme nicht, wie bis jetzt, ihre produktive Kraft fruchtlos verbrauchen, 
sondern sich zusammenfinden. (Anhaltender Beifall. Lärmende Zwischen- 
rufe der Alldeutschen.) Die Wahlreform ist nicht im Interesse irgend einer 
Partei unternommen worden, am allerwenigsten im Interesse der sozial- 
demokratischen Partei; sie entsprang der Notwendigkeit, das Parlament auf 
festere Grundlagen zu stellen als bisher. (Lebhafter Beifall.) Was die 
Behauptung angeht, daß den eigentlichen Vorteil die Sozialdemokratie 
haben werde, so erwidere er, wenn man die Sozialdemokratie ernstlich be- 
ämpfen will, so muß man ihr die wirksamste Waffe entwinden, nämlich 
die Anklage gegen den Staat, daß die minderbemittelten Klassen in ihren 
wirtschaftlichen Rechten verkürzt werden. (Lebhafter Beifall.) — Auf die 
entschwindende Aera zurückblickend, konstatiert der Ministerpräsident, daß 
das Abgeordnetenhaus wehr= und willenlos inmitten der Stürme der Ob- 
struktion stand. Wenn die jetzigen politischen Klassen für die Reform 
stimmen, tragen sie bei zu dem großen politischen Fortschritt und zum 
sozialen Frieden. (Lebhafter Beifall.) — Ich für meinen Teil erwarte 
von der Reform für alle nur Gutes. (Beifall.) Weil mich diese Ueber- 
zeugung beseelt, gehe ich mit gutem Gewissen in den Kampf; ich bin es 
der Sache schuldig, bis zum letzten Augenblick auszuharren, und werde, 
solange nicht alle Mittel des legalen Kampfes erschöpft sind, die Waffen 
 
	        
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