Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

Mie erreichisch-ungerische Monarie. (März 7./23.) 247 
der ihr anhaftenden Mängel mit Befriedigung. Die Regierung habe die 
Vorlage nicht so sehr unter dem Druck der Sozialdemokratie eingebracht, 
als weil sie an den bisherigen staatlichen Einrichtungen Oesterreichs ver- 
zweifeln mußte. Die Sozialdemokraten hielten an ihrer Nationalität fest 
und hätten ein großes Interesse an der gesunden Entwicklung des Staates. 
Agchergelt (d. Vp.) lehnt die Vorlage ab, weil sie eine slawische Mehr- 
eit schaffe. 
Am 14. konstatiert Ministerpräsident v. Gautsch, daß sämtliche 
Redner die Notwendigkeit der Wahlreform prinzipiell anerkannt und dem 
Grundgedanken der Regierungsvorlage zugestimmt haben. Die konservativen 
Elemente sollten durch die Wahlreform nicht aus den Parlamenten ver- 
drängt werden; es sei durch die Art der Wahlkreiseinteilung Vorsorge 
dafür getroffen, daß die Konservativen von den Radikalen nicht verdrängt 
werden könnten. Durch die von verschiedenen Seiten vorgeschlagene Aen- 
derung der Verfassung im Sinne der Entlastung des Reichsrates würde 
der nationale Kampf statt Eine Stätte deren viele haben, wo die Möglich- 
keit einer Vermittlung noch schwieriger wäre, als im Reichsrat. Die Wahl- 
reform sei nicht im Interesse der Sozialdemokratie eingebracht worden, die 
Regierung unterhalte keine Verbindung mit der sozialdemokratischen Partei. 
Wer ihn, den Ministerpräsidenten, kenne, der wisse, daß er dieser Partei 
völlig fernstehe und daß seine Anschauungen von denen derselben durch 
eine weite Kluft getrennt seien. Die Rechte der flawischen Völker würden 
nicht verkürzt; die Vorlage, welche die Zahl der flawischen Mandate er- 
höhe, könne kein schreiendes Unrecht an den nichtdeutschen Völkern be- 
deuten. Er sehe keine Schwächung Oesterreichs durch die Reform voraus, 
er sehe vielmehr Millionen, die bisher von Unmut erfüllt waren, enger 
an die Interessen des Vaterlandes geknüpft, er sehe das österreichische 
Parlament neugegründet auf dem Fundamente des gleichen Rechtes und 
gerüstet gegen die Stürme der Zukunft. Er könne daher mit Beruhigung 
sagen: Wer für das neue Wahlrecht stimmt, stimmt für die Neubegründung 
unserer parlamentarischen Einrichtungen. (Anhaltender lebhafter Beifall.) 
Abg. Kramarcz (Tsch.): Die Tschechen träten für die Wahlreform 
einzig im Interesse des Volkes ein. Die logische Folge werde eine Ver- 
fassungsreform in nationaler Richtung in Verbindung mit einer Dezen- 
tralisation sein müssen. Im neuen Parlament werde der Ausgleich der 
Nationalitäten, den auch die Tschechen wünschten, die Lebensbedingung für 
alle sein. Abg. Abrahamovic (Pole): Die Polen seien, obwohl 1873 
bis 1878 nichts für Galizien geschah, für alle Staatsnotwendigkeiten ein- 
getreten, für die Stellung des Polenklubs zum Staate sei nicht etwas an- 
deres maßgebend gewesen, als die Liebe zum Kaiser. Die Einsicht, daß 
es im Nationalinteresse der Polen liege, für die Größe eines Reiches ein- 
zutreten, in welchem sie ihre freie Entwickelung fänden, endlich der Wunsch, 
zu beweisen, daß die Polen, wo ihre Rechte geschont würden, die loyalsten 
Staatsbürger seien. Er könne von der Wahlreform keine Besserung der 
parlamentarischen Lage erwarten. Abg. Lecher (fortschrittl.): Die Wahl- 
reform wird sicher gemacht, also ist es besser, sie wird von uns als ohne 
und gegen uns gemacht. Fällt die Wahlreformvorlage und mit ihr Gautsch, 
so sind die Wahlreformgegner doch nicht imstande, eine Koalition zu bilden. 
Es würde nur ein anderes Beamtenministerium kommen und der Kaiser 
die Demission des Frhrn. v. Gautsch doch nicht annehmen, sondern das 
Haus würde aufgelöst, und auf Grund der alten Wahlordnung würden 
mit der Plattform der neuen Wahlordnung neue Wahlen gemacht, die 
zweifellos von der Frage: „Für oder gegen das allgemeine Stimmrecht" 
beherrscht sein würden. Dann aber wird sich eine Koalition der sonst 
 
	        
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