Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

Fie Ulerreichisch-ungarische Monarcie. (Juni 7.) 259 
Führung der Regierung folgen. Dieselbe hoffe, in und mit dem Parla- 
mente die Kraft zur Lösung ihrer schweren Aufgabe zu finden. Bezüglich 
des Verhältnisses zu Ungarn sei die Regierung der Ansicht, daß der Zoll- 
tarif gemäß der früher mit Ungarn getroffenen Vereinbarungen als ge- 
meinsamer Tarif gesetzlich zu artikulieren sei. Ungarn aber stehe auf dem 
Standpunkt, daß bereits seit 1899 der Zustand des selbständigen Zoll- 
gebietes eingetreten sei, und habe daher dem ungarischen Abgeordneten- 
hause den allerdings gleichlautenden gemeinsamen Zolltarif als selbstän- 
digen ungarischen Tarif vorgelegt. Oesterreich besitze den durch die im 
Rahmen der Handelsverträge für die Gemeinsamkeit gebrachten Opfer 
teuer erkauften Anspruch auf die bündnismäßige Aufrechterhaltung des 
gemeinsamen Zollgebietes und Tarifes für die Dauer der Handelsverträge, 
Ungarn aber versage jenen Gegenwert und mache die Nichtanwendung des 
ungarischen Zolltarifes gegen Oesterreich lediglich von der Einhaltung der 
Reziprozität abhängig. Oesterreich wäre grundsätzlich schon jetzt zu selb- 
ständigen Verfügungen berechtigt. Da aber Ungarn erklärt habe, daß es 
die verfassungsmäßige Behandlung des Zolltarifes nicht fortsetzen wolle, 
bis die Verhandlungen mit Oesterreich beendet seien, sei Oesterreich zu- 
nächst zu einer Verständigung bereit. Die Verhandlungen müßten jedoch 
den ganzen Komplex der Ausgleichsfragen umfassen und eine klare und 
dauernde, gegen Beeinträchtigungen sichernde Grundlage der wirtschaftlichen 
Entwickelung schaffen. Sollten die Verhandlungen scheitern und Oester- 
reich gezwungen sein, sein Haus selbst zu bestellen, so werde das mit Ruhe, 
Ernst und Entschiedenheit geschehen. Die Regierung erbitte die kräftigste 
Unterstützung des Hauses, sie stehe für die Aufrechthaltung des legitimen 
Einflusses des Parlaments sowie dafür ein, daß keine Entscheidung, die 
Oesterreich angehe, ohne Oesterreich gefällt werde. Die Regierung erachtet 
gerade im Hinblick auf die mögliche Gestaltung der Dinge in Ungarn die 
Fortsetzung der Eisenbahnverstaatlichungsaktion für geboten. Dringend 
nötig sei auch die baldige Verabschiedung der Nordbahnvorlage, die seiner- 
zeitige Regelung des Fluß= und Seeschiffahrtsverkehrs und die Erledigung 
der Gewerbenovelle. Gegenüber der Wahlreformvorlage sei die Regierung 
in der Lage des Universalerben. Sie trete die Erbschaft ohne Vorbehalt 
an und sei entschlossen, die Vorlage ihrem Ziele zuzuführen. Eine Ver- 
ständigung müsse gefunden werden. Die Regierung werde alles daran- 
setzen, um die parlamentarische Erledigung der Wahlreform zu beschleu- 
nigen. Dieselbe werde gelingen im Geiste der Einmütigkeit. Wenn man 
bereit sei, mit kleinen Opfern eine so große Errungenschaft zu erkaufen, 
dann werde die Wahlreform als Ausfluß der großen Gemeinsamkeit des 
Empfindens aller Völker Oesterreichs erscheinen und den nationalen Frieden 
fördern. Dieser heiligen Aufgabe weihe die Regierung ihre ganze Kraft. 
Wenn auch der Nationalitätenstreit nicht alsbald gänzlich zu tilgen sei, so 
hoffe die Regierung wenigstens eine Milderung desselben und die Vor- 
bereitung der Schlichtung der weiteren Fragen zu erzielen, da der Mi- 
nisterrat durch den Eintritt der Vertrauensmänner der streitenden Par- 
teien nun zu dem Boden geworden sei, auf welchem eine Verständigung 
angebahnt werden könne und solle. Die Regierung werde zum Zwecke der 
Herbeiführung des nationalen Friedens alles aufbieten und im richtigen 
Augenblick auch vor kritischen Fragen nicht zurückweichen, wie es die 
Lösung der Sprachenfrage in Böhmen oder die Erledigung der mährischen 
Universitätsfrage sei. (Lebhafte Zwischenrufe.) In dem gegenwärtigen 
schicksalsschweren Augenblick, der den stärksten Schutz für die gemeinsamen 
Interessen der Völker Oesterreichs erfordert, ist nur die unerschütterliche 
Einigkeit der Regierung, des Parlaments und der österreichischen Völker 
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