Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar Anf. 4.) 19
Anfang Februar. Die „Frankfurter Zeitung“ schreibt über
die baltische Revolution und die deutsche sozialdemokratische Presse:
„Es ist kaum zu glauben, was sich deutsche sozialdemokratische
Blätter, wie z. B. der „Vorwärts“ und die „Leipziger Volkszeitung“, über
die Vorgänge in den russischen Ostseeprovinzen aufbinden lassen. So ver-
öffentlichte der „Vorwärts“ einen Artikel, in dem kühn behauptet wird,
daß erst die Ankunft des Generalgouverneurs Sollogub "die ursprünglich
ganz unblutige Revolte zu dem erbitterten Gemetzel und der schonungs-
losen Verheerung und Mordbrennerei, die nun ihr Ende in einem militä-
rischen Rachezuge fand“, verwandelt habe. Dieser Entstellung der Wahr-
heit braucht man nur die nackten Tatsachen gegenüberzustellen. General
Sollogub ist mit seinen Truppen erst Ende Dezember v. J. in die Pro-
vinzen eingerückt, während die Ermordungen von Gutsbesitzern und die
Brandstiftungen auf den Gutshöfen schon lange vorher stattgefunden haben.
Nicht besser steht es mit der Versicherung, daß die Revolutionäre die
deutschen Flüchtlinge „mit der größten Rücksichtnahme" und mit ausneh-
mender Höflichkeit" behandelt hätten. Fälle, die das Gegenteil beweisen,
sind noch in frischer Erinnerung: die bei Lennewarden gefangenen Frauen
und Kinder wurden wiederholt vor die Gewehrläufe der Revolutionäre
gestellt, damit sie glauben sollten, sie würden erschossen; Dr. Katterfeld
wurde in seinem Bett kalten Blutes erschossen; der achtzigjährige Pastor
Bielenstein, der sich die größten Verdienste um die Förderung lettischer
Literatur erworben hat, wurde mit seiner greisen Gattin verjagt und seine
unersetzlichen literarischen Schätze wurden verbrannt; zwei alleinstehende
adelige Damen in Estland wurden, ungenügend bekleidet, in kalter Winter-
nacht vertrieben; einem Herrn v. Kotzebue wurden die Fingernägel heraus-
gerissen u. s. w.! Trotz alledem schreibt der „Vorwärts“’ entzückt: „Kann
man sich ritterlichere Aufrührer vorstellen?" Fügen wir noch hinzu, daß
die genannten sozialdemokratischen Blätter ihren Lesern über die Mord-
taten der Letten und Esten nichts mitteilen, dann kann man sich leicht
vorstellen, wie die Berichterstattung derselben über die Vorgänge in den
russischen Ostseeprovinzen überhaupt beschaffen ist, und doch sind durch diese
Mordtaten nur Landsleute — Deutsche betroffen worden.
Anfang Februar. (Preußen.) Der Erzbischof von Gnesen
verbietet den Geistlichen seiner Diözese die öffentliche Tätigkeit in
dem polnischen Ostmarkenverein „Straz“. — Die polnische Presse
tadelt den Erlaß lebhaft.
4. Februar. (Berlin.) Das preußische Landesökonomie-
kollegium faßt folgenden Beschluß über innere Kolonisation:
1. Es ist eine wirtschaftliche, soziale und nationale Notwendigkeit,
einen Teil des Großgrundbesitzes in den östlichen Provinzen planmäßig
zu besiedeln. Die richtige Durchführung dieser Aufgabe ist für eine ge-
sunde Weiterentwicklung unseres Volkes und unseres Staates durchaus
geboten. 2. Das Ziel jeder, auf Lösung dieser Aufgabe gerichteten Tätig-
keit ist eine zweckmäßige Mischung der verschiedenen Besitzgrößen unter
Begründung leistungsfähiger Landgemeinden mit Handwerker- und Land-
arbeiterstellen. 3. Diesen Anforderungen kann nur ein Kolonisator ent-
sprechen, welcher seinerseits keine Erwerbsinteressen verfolgt. Das würde
also in erster Linie der Staat sein; dieser wird sich jedoch aus Gründen
der Zweckmäßigkeit besser provinzieller, gemeinnütziger Privatgesellschaften
bedienen, welche durch Gewährung billigen Kredits zu unterstützen sind.
2*