262 Vie AMerreichisch-ungarische Monarcie. (Juni. 11.)
geleiteten antiungarischen Versammlung beigewohnt hat, zieht vor das
ungarische Ministerpalais, verhöhnt die Mitglieder der Delegation und
versucht die Fenster einzuwerfen. Eine Sitzung der ungarischen Delegation
muß unterbrochen werden, bis die Masse durch Polizei vertrieben wird. —
Ministerpräsident v. Beck spricht dem ungarischen Ministerpräsidenten sein
Bedauern aus und sagt strenge Untersuchung zu. — Die meisten größeren
Blätter werfen Lueger vor, die Demonstration angestiftet zu haben. Ober-
bürgermeister Lueger erklärt im Gemeinderat (12. Juni): Die in der Bank-
gasse vorübergezogenen Personen, die zuvor an einer Volksversammlung
teilgenommen, hätten nicht gewußt, daß im Ministergebäude am Sonntag
eine Sitzung der ungarischen Delegation stattfand. Sie seien zudem durch
verhöhnende Gesten und Herabspucken von dem Gebäude in Aufregung
geraten. Er, der Bürgermeister, müsse, obwohl diese bedauerlichen Provo-
kationen zum mindesten ein Entschuldigungsgrund seien, die Vorgänge in
der Bankgasse, die übrigens keine wie immer geartete politische Spitze hätten,
aufs tiefste bedauern und mißbilligen.
11. Juni. (Wien.) Ungarische Delegation. Minister des
Auswärtigen Graf Goluchowski legt die auswärtige Lage dar (Drei-
bund, Balkan, Marokko):
Der lange Zeitraum, der seit der letzten Tagung der Delegationen
verflossen ist, gehört zu jenen Epochen, die in der Flucht der weltgeschicht-
lichen Ereignisse tiefe Spuren zurückzulassen pflegen. Die an den Tag
getretenen Erscheinungen haben den politischen Horizont wiederholt dert
düstert, manche Beklemmung und manche Besorgnisse wachgerufen, und
wenn nichtsdestoweniger die Monarchie mit ruhiger Zuversicht in die Zu-
kunft blicken durfte, so ist es einerseits der beständigen, emsigen Pflege
freundschaftlicher Beziehungen zu allen auswärtigen Staaten, andrerseits
dem Vertrauen zuzuschreiben, das ihre offene, loyale, von aufrichtiger
Friedensliebe getragene Politik überall einzuflößen vermochte. Durch den
engen Zusammenschluß mit unseren Verbündeten, gestützt auf das zu einer
erfreulichen Intimität sich verdichtende Verhältnis zu Rußland, im vollen
Genusse der sympathischen Gesinnungen aller übrigen Mächte, konnten wir
unentwegt die Ziele unserer Politik verfolgen und die Wahrnehmung un-
serer Interessen mit jenen Garantien umgeben, die einen ungestörten Fort-
schritt auf dem betretenen Wege zu sichern geeignet sind. Im Zeichen
einer vertrauensvollen Uebereinstimmung bewegten und bewegen sich, ebenso
wie je zuvor unsere Beziehungen zum Deutschen Reich. Fest und uner-
schüttert, bilden sie den Angelpunkt jenes politischen Systems, welches sich
bereits seit mehr als einem Vierteljahrhundert bewährt und dessen Fort-
bestand nicht allein in unserem gegenseitigen Interesse liegt, sondern auch
für den ganzen europäischen Kontinent eine eminente Friedensbürgschaft
darstellt. Diese Grundlage unversehrt zu erhalten, ist ein Gegenstand steter
Fürsorge beider Kabinette, welcher sie sich gewiß auch in der Zukunft mit
demselben Ueberzeugungseifer hingeben werden, wie sie es bisher zu tun
beflissen waren. Und nicht minder befriedigend ist das Verhältnis zu un-
serem italienischen Alliierten. Es gibt zwar unverantwortliche Kreise, welche
durch künstlich hervorgerufene Dissonanzen dieses gute Einvernehmen stören
möchten. Solche Versuche, Unfrieden zu stiften, scheitern indessen sowohl
an den beiderseitigen redlichen Bemühungen, die ab und zu zum Vorschein
kommenden Verstimmungen baldigst aus der Welt zu schaffen, als auch an
der korrekten Haltung der italienischen Regierung, die stets bestrebt ist,
ihre bundestreuen Gesinnungen loyal zu betätigen.
Diesem festgefügten Unterbau gliedert sich wirkungsvoll die Ver-