Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

Bie ößerreichischungarische Monarchie. (Dezember 1. 4.) 281 
1. Dezember. (Cisleithanien.) Das Abgeordnetenhaus 
genehmigt mit 194 gegen 63 Stimmen die Wahlreform wesentlich 
nach dem Ausschußantrag. 
Das Werk hatte mehrere Schwierigkeiten zu überwinden. Am 21. No- 
vember wurde die Einführung des Pluralwahlrechts beantragt, was die 
Regierung bekämpfte. Der Antrag wurde mit 201 gegen 143 Stimmen 
abgelehnt; Christlich- Soziale und Sozialdemokraten stimmten geschlossen 
dagegen, Polen und Großgrundbesitz dafür, die übrigen Parteien spalteten 
sich. Am 27. riefen die Tschechisch-Radikalen heftige Tumulte hervor, am 
30. erzwangen sie eine Unterbrechung der Sitzung durch tätliche Angriffe 
auf die Schriftführer. — Am 29. beantragte Abg. Kramarsch (Tsch.), in 
Böhmen den Tschechen 78, den Deutschen 52 Mandate zu überweisen (statt 
75 und 55), worauf Ministerpräsident Freiherr v. Beck erklärt, die Annahme 
dieses Antrags lasse die Wahlreform scheitern. Infolgedessen wird der 
Antrag Kramarsch abgelehnt. — Auf die zweite Lesung folgt sogleich die 
dritte Lesung im Wege der Dringlichkeit. 
Die Minderheit bilden der konservative und verfassungstreue Groß- 
grundbesitz, die Schönerianer, der freialldeutsche Abg. Wolf, die liberalen 
Slowenen, die katholischnationalen Tschechen, Abg. Menger von der Deutschen 
Fortschrittspartei und ein Mitglied des Zentrums. Abwesend waren die 
Ruthenen, um zu protestieren gegen ihre Zurücksetzung bei der Wahl- 
reform, für die sie sich aber grundsätzlich erklärt hatten, mehrere Mitglieder 
des Zentrums, des Polenklubs, die Tschechisch-Radikalen, die meisten Frei- 
alldeutschen, einige Deutschfortschrittler, Abg. Kaiser von der Deutschen 
Volkspartei und die Tschechisch-Radikalen Graf Sternberg und Holansky. 
4. Dezember. (Budapest.) Verhandlung über die aus- 
wärtige Politik in der österreichischen Delegation. 
Minister des Auswärtigen Frhr. v. Aehrenthal: Meine Aufgabe, 
das Ressort zu vertreten, ist insofern eine leichte, als die auswärtige Politik 
in den Verhandlungen der letzten Tagung einen breiten Raum eingenommen 
hatte. Die Aufgabe wird aber auch deshalb eine leichte sein, weil Oester- 
reich-Ungarn mit allen Faktoren der europäischen Politik freundliche Be- 
ziehungen unterhält. Die Politik der Monarchie ist die der Kontinuität. 
In der sorgfältigen Pflege dieser Beziehungen werde ich meine vornehmste 
Pflicht erblicken. Mit Deutschland verbindet uns enge Freundschaft, die 
auf der Gemeinsamkeit gleicher Interessen basiert. Diese Freundschaft bildet 
nicht allein eine der wesentlichsten Bürgschaften des Friedens seit mehr als 
25 Jahren, sondern sie kommt überhaupt dem europäischen Staatssystem 
zugute und wird, ich bin davon fest durchdrungen, auch in Zukunft den 
günstigsten Eindruck im Sinne einer erhaltenden Politik ausüben. Mein 
jüngster kurzer Aufenthalt in Berlin und die Unterredung mit dem Reichs- 
kanzler Fürsten Bülow hat die erfreuliche Tatsache vollständiger Ueberein- 
stimmung unserer Ansichten ergeben. Mit Italien, dem anderen Faktor 
im Dreibunde, unterhalten wir herzliche und aufrichtige Beziehungen. Ge- 
legentlich meines Amtsantrittes hat zwischen mir und dem italienischen 
Minister des Aeußern ein freundschaftlicher Gedankenaustausch stattgefunden, 
durch welchen das herzliche Verhältnis zwischen den beiden Regierungen 
in unzweifelhafter Weise zum Ausdruck kam. Ausgehend von der Tat- 
sache, daß zwischen der Monarchie und Italien keine Interessengegen- 
sätze bestehen, bin ich der Meinung, daß wir mit dem Königreich in 
allen großen Fragen in voller Harmonie werden vorgehen können. Die 
guten Beziehungen werden es erleichtern, die leider öfter vorkommenden
	        
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