320 Frankreich. (Juni Ende—Juli 12.)
Umgebung isolieren wolle, sei er der Meinung, daß das Individuum und
die soziale Umgebung gleichzeitig reformiert werden müßten. Er verlange
völlige Aktionsfreiheit für das Proletariat. Die Sozialisten wollten die
jetzt vielfach eingerissene soziale Heuchelei nicht mitmachen. Erstaunlich sei,
daß man so spät daran gehe, die Schuldigen des Unglücks von Courrieres
zu verfolgen.
Am 21. spricht die Kammer der Regierung mit 389 gegen 88 Stimmen
ihr Vertrauen aus.
Ende Juni. (St. Etienne.) Sämtliche französische Berg-
arbeiterverbände vereinigen sich zu einer nationalen Föderation.
10. Juli. Die Kammer genehmigt eine Vorlage auf Am-
nestie von Streikunruhen für Arbeiter. Die von Sozialisten und
Nationalisten geforderte Amnestierung ausständiger Beamten lehnt
die Regierung ab.
11. Juli. (Paris.) Der Kassationshof hebt das Urteil des
Kriegsgerichts in Rennes (vgl. 1899) im Prozeß Dreyfus auf, ohne
das Urteil an eine andere Instanz zu verweisen.
Das Urteil führt als neue Tatsachen an: Das Schriftstück Nr. 371,
das sich auf die Ersetzung des Buchstaben P durch den Buchstaben D bezieht,
und das als ein Beweis für die Unschuld Dreyfus' angesehen worden ist,
2. das Schriftstück Nr. 26 über die Organisation der Eisenbahnen, dessen
Datum nach dem Prozeß Zola von dem Obersten Heury eingefügt ist,
3. das Konzept des Admirals Bayle. Der Kassationshof ist der Ansicht,
daß diese Tatsachen die Unschuld Dreyfus' dartun und erklärt ferner, es
stehe fest, daß das Borderau von Esterhazy geschrieben ist, und daß die
Anklage, soweit sie sich auf das Bordereau bezog, nur auf Hypothesen be-
ruhte. Ueberdies wurden vor der Verhaftung Dreyfus' mehrere Spionage-
und Landesverratsverbrechen begangen, an denen Dreyfus erwiesenermaßen
unschuldig war. Das Urteil spricht Dreyfus von allen gegen ihn er-
hobenen Anklagen frei. In der Erwägung, daß sowohl die aus der Hand-
schrift wie aus dem Texte des Bordereaus hergeleitete Anklage völlig un-
gerechtfertigt sei und man sich vergebens frage, in welcher Absicht der reiche
Dreyfus ein so schweres Verbrechen hätte begehen sollen; in Erwägung
ferner, daß von der Klage kein Punkt bestehen bleibe und daß infolge-
dessen die Rückverweisung nicht ausgesprochen werden dürfe, annulliere der
Gerichtshof die Verurteilung und erklärt, daß die Verurteilung irrtüm-
licherweise und zu Unrecht ausgesprochen worden sei. Die Entscheidung
solle im Amtsblatt und in fünfzig weiteren Zeitungen, deren Auswahl
Dreyfus anheimgestellt wird, veröffentlicht werden.
12. Juli. (Kammer.) Budget. Einkommensteuer.
Finanzminister Poincaré teilt mit, daß das Gleichgewicht des
Budgets dadurch hergestellt worden sei, daß er keinen Betrag für die
Amortisation der Schuld eingesetzt habe. Das Budget für 1907 enthalte
91 Millionen Franken neue Ausgaben, während die Einnahmen 80 Mil-
lionen Franken weniger als bisher aufwiesen; es müßten also neue Ein-
nahmequellen erschlossen werden. Der Minister legt dann das Projekt der
Regierung betr. die Einkommensteuer dar und erklärt, wenn die Kammer
diesem Projekt nicht zustimme, werde er zurücktreten. Der Augenblick sei
gekommen, wo die bisherigen vier direkten Steuern durch eine Steuer zu
ersetzen sei, die alle Einkommen treffe.