Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

330 Frankreich. (Dezember 8.—11.) 
vernehmen mit dieser großen Nation zustande gebracht habe, die unbestreit- 
bare Rechte in Marokko hat und deren Freundschaft für uns wertvoll ist. 
Unsere äußere Politik wird sich nicht von den Wegen verdrängen lassen, 
die die Regierung sich vorgezeichnet hat, entsprechend der Algecirasakte, 
die die Rechte der Freiheit anerkennt und den Frieden garantiert. Ein 
Zweifel daran, daß wir den Frieden hüten wollen, ist nicht gestattet. 
Frankreich geht in Ruhe vor. Es kann keine Befürchtungen erwecken, denn 
es befürchtet selbst nichts. Wir wollen nichts als einen Frieden in Würde, 
das heißt, Frieden und Unabhängigkeit. Unsere Politik ist durch inter- 
nationale Abmachungen gebunden. Sie stützt sich aber auch auf Freund- 
schaften, die von Wert für uns waren, als es sich darum handelte, ein 
gutes Einvernehmen zu erzielen, und welche ein besonderes Bedürfnis für 
unsere Politik sind. (Lebhafter Beifall auf allen Bänken.) 
Die Kammer genehmigt mit 457 gegen 56 Stimmen ein Ver- 
trauensvotum. 
8. Dezember. Papst und Trennungsgesetz. 
Auf die Anfrage mehrerer Bischöfe, ob die Geistlichen die vom Ver- 
sammlungsgesetz vorgeschriebenen Anmeldungen abgeben sollen, erwidert der 
Papst, der Kultus solle in den Kirchen nach dem 11. Dezember ohne jede 
Erklärung an die Behörden fortgesetzt werden. Die Erzbischöfe von Tou-= 
louse und Bordeaux, die die Anmeldung provisorisch gestattet hatten, ziehen 
die Erlaubnis infolgedessen zurück. — Die radikalen und sozialistischen 
Kreise sehen diese Entscheidung als religiöse Kriegserklärung an. 
10. Dezember. Maßregeln gegen die Geistlichen. 
Kultusminister Briand richtet an die Präfekten ein Rundschreiben, 
in welchem angeordnet wird, daß gegen Geistliche und andere Veranstalter 
von kulturellen Zusammenkünften, welche die gesetzlich vorgeschriebene Er- 
klärung nicht abgegeben oder eine ungenügende Erklärung gemacht haben, 
bei der Staatsanwaltschaft Strafanzeige zu erstatten ist. Die Regierung 
rechne auf die Festigkeit und Wachsamkeit der Präfekten, damit dem Gesetze 
Achtung verschafft werde. Z 
Justizminister Guyot-Dessaigne erläßt ein Rundschreiben an die 
Staatsanwaltschaften, zu ihrer Kenntnis kommende Uebertretungen der auf 
die Ausübung des Kultus bezüglichen Bestimmungen unverzüglich zur Be- 
strafung zu bringen. Diese Strafverfolgungen sollen unabhängig von der 
Verfolgung etwaiger Verbrechen oder Vergehen, die aus Anlaß von kul- 
turellen Vereinigungen begangen werden sollten, durchgeführt werden. Der 
Minister empfiehlt den Staatsanwälten, zu prüfen, ob es im Falle von 
Freisprechungen solcher Beschuldigten nicht angezeigt wäre, Berufung ein- 
zulegen. 
11. Dezember. Die Frist für die Anmeldung der Kultvereine 
läuft ab. Katholische Kultvereine sind nicht gebildet worden. Kultus- 
minister Briand charakterisiert die Lage folgendermaßen: 
Die katholische Kirche, welche ein sie begünstigendes Gesetz abgelehnt 
hat, wird sich eben dem gemeinen Rechte unterwerfen müssen. Da der 
Artikel 1 des Trennungsgesetzes erklärt, daß die Republik die freie Aus- 
übung der Kulte verbürge, wird der katholische Kultus wie jeder andere 
ausgeübt werden können. Der Pfarrer wird in der Kirche seine Messe 
lesen und predigen können, wie gewöhnlich; aber es wird ihm nur die 
Benutzung der Kirche gestattet sein, während er, wenn sich eine Kultus- 
vereinigung gebildet hätte, gewissermaßen Eigentumsrecht gehabt hätte.
	        
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