Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

Stalien. (Dezember 15./18.) 345 
die Annäherungsbewegung zwischen Deutschland und England zu erleichtern. 
Diese Annäherung finde in Deutschland und England die Unterstützung 
der namhaftesten Politiker. Der Minister weist dann auf die Rede des 
Fürsten Bülow hin, der eingehend ausgeführt habe, daß, wenn auch zwischen 
Deutschland und England es Mißverständnisse geben könnte, doch kein 
Grund zu einem Konflikt oder noch weniger zu einem Kriege bestehe. 
Im Jahre 1905 habe Fürst Bülow sich weniger optimistisch ausgesprochen, 
was beweise, daß die Beziehungen gebessert seien. In gleichem Sinne 
hätten Tschirschky, Grey, Balfour und Campbell Bannermann sich geäußert. 
Demgegenüber könne er irreleitenden Preßpolemiken keine Bedeutung bei- 
legen, die auch vom Fürsten Bülow und Bannermann verurteilt worden 
seien. — Ueber die Beziehungen zwischen Italien und der österreichisch- 
ungarischen Monarchie stellt er fest, daß die Regierungen der beiden Länder 
glücklicherweise mehr Ruhe und mehr Klugheit bewiesen haben als ein Teil 
der Presse der beiden Länder, der zu wiederholtenmalen die öffentliche 
Meinung durch Uebertreibungen und manchmal durch Erfindungen in 
lebhafte Beunruhigung versetzte, in der häufig die einfachsten Ereignisse 
unter sensationellen, phantastischen Gesichtspunkten dargestellt werden. Mit 
aller Bestimmtheit erklärt er, daß Baron Aehrenthal und er entschlossen 
seien, in jeder Beziehung in vollem Einvernehmen vorzugehen, kalten 
Blutes und mit dem Gefühl des aufrichtigen gegenseitigen Wohlwollens 
jeden Zweifel zu behandeln, der sich ergeben würde, und derartigen Kund- 
gebungen, die sie beide beklagt hätten und stets beklagen würden, keinerlei 
Rechnung zu tragen. Die Tätigkeit der beiden Regierungen müsse darauf 
gerichtet sein, alles zu begünstigen, was die beiden Nationen einander 
nähere, und alles sorgfältig zu vermeiden, was Verdacht, Mißtrauen und 
Empfindlichkeiten hervorrufen könne. Der Minister verurteilt dann die 
irredentistischen Kundgebungen in Italien und stellt fest, daß seit 1904 
eine langsame, aber anhaltende Besserung in dem Gefühl der öffentlichen 
Meinung gegen Oesterreich-Ungarn eingetreten sei. In der makedonischen 
Frage sind unsere Interessen durch unseren Vertrag, in der albanischen 
Frage durch das zwischen Visconti-Venosta und Goluchowski geschlossene 
Abkommen sichergestellt worden. Auf dieser Grundlage haben wir unsere 
Interessen weiter geschützt. Mit Oesterreich-Ungarn stehen wir bis zum 
Augenblick im vollsten Einvernehmen und werden dies auch in Zukunft 
tun. Unsere Beziehungen zu den Balkanstaaten sind ausgezeichnete. In 
den letzten Tagen unterzeichneten die Delegierten in Bukarest den rumä- 
nischen Handelsvertrag, bald beginnen die Handelsvertragsverhandlungen 
mit Serbien. Was die makedonischen Reformen betreffe, so werde sich die 
Wirkung der türkischen Zollerhöhungen erst in einiger Zeit übersehen 
lassen. Die Gendarmerieorganisation werde bald kräftige Erfolge zeitigen. 
Im griechisch-rumänischen Konflikt bot Italien beiden Ländern seine guten 
Dienste an. In Kreta scheine es Zaimis gelungen zu sein, die Gemüter 
zu beruhigen; die italienischen Offiziere und Unteroffiziere kehren Ende 
des Monats zurück. Die Beziehungen zu Frankreich seien freundschaftlich 
und herzlich. Solange der Dreibund fortfahre, die friedliche Mission aus- 
zuüben, die in seinem Charakter liege, so lange Italien und die befreun- 
deten Mächte in der gegenwärtigen Friedenspolitik verharren, brauche 
Italien nicht, wie man behaupte, zwischen Bündnis und Freundschaft zu 
optieren. Man müsse nur die gegenwärtige Politik fortsetzen. Darum 
treu zum Bund, welcher Italien gestatte, die Freundschaft zu pflegen und 
dadurch den europäischen Frieden sichere! Die Politik Italiens müsse darin 
bestehen, den Dreibund aufrecht zu erhalten und zu festigen und die 
Freundschaft mit England und Frankreich zu pflegen. In den Beziehungen 
 
	        
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