Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

Ruhland. (18. 26.) 379 
Seele jedes Volkes erregende Frage, welche auch uns Volksvertreter erregt 
und uns verhindert, in Ruhe den ersten Schritt unserer gesetzgeberischen 
Tätigkeit zu tun. Das erste Wort, welches von der Duma erschallte und 
mit Sympathierufen der ganzen Versammlung aufgenommen wurde, es 
war das Wort: „Amnestie“. Das Land lechzt nach großer politischer 
Amnestie, die eine Forderung des Volkes ist, deren Erfüllung nicht ver- 
zögert werden darf. Die Duma erwartet von Eurer Majestät volle poli- 
tische Amnestie als erstes Unterpfand gegenseitigen Verständnisses und gegen- 
seitiger Uebereinstimmung zwischen Kaiser und Volk. 
18. Mai. Der Reichsrat genehmigt eine Adresse an den 
Zaren, worin er ihm den Dank für die Grundgesetze ausspricht. 
In der Debatte polemisiert Graf Witte scharf gegen die von der 
Duma verlangte unbeschränkte Amnestie, denn sie werde die Ruhe nicht 
wiederherstellen. Der Haß zerstört die Ruhe und macht sie unmöglich. 
Leute, die das nicht einsehen, verwechseln die Wirkung mit der Ursache, 
der Haß ist zu tief eingewurzelt, als daß er durch diese Amnestie aus- 
gerottet werden könnte. Der Haß ist nicht aus administrativer und richter- 
licher Willkür entstanden, sondern aus habsüchtiger, egoistischer Gesinnung. 
Der Haß will alle Ungleichheit, selbst die persönliche, beseitigen und aus 
dem russischen Volke eine Herde machen. 
26. Mai. (Duma.) Erwiderung auf die Adresse; Regierungs- 
programm; Mißtrauensvotum. 
Ministerpräsident Goremykin gibt eine Erklärung ab: Die 
Regierung, welche ihrer Tätigkeit strenge Gerechtigkeit zugrunde legt, er- 
klärt nach der ihr vom Kaiser übertragenen Durchsicht der Adresse der 
Duma ihre Bereitwilligkeit, den von der Duma angeregten Fragen, soweit 
dieselben nicht den Rahmen ihrer Zuständigkeit gesetzgeberischer Initiative 
überschreiten, ihre volle Unterstützung zu leihen. Die Unterstützung wird 
die Regierung auch hinsichtlich der Abänderung des Wahlrechts an den 
Tag legen, obgleich sie dafür hält, die Frage einer nochmaligen Beratung 
zu unterziehen, da die Duma ihre Tätigkeit erst beginnt und daher also 
nicht über das Bedürfnis nach einer Aenderung Klarheit geschaffen werden 
konnte. Mit besonderer Vorsicht verhält sich der Ministerrat gegenüber der 
von der Duma angeregten Frage hinsichtlich der unaufschiebbaren Be- 
friedigung der Bedürfnisse der Landbevölkerung und Gleichstellung der 
Bauern mit den übrigen Klassen, der Befriedigung der Bedürfnisse der 
Arbeiter, des Gesetzes über den obligatorischen Volksunterricht und die 
Heranziehung der vermögenden Klassen zur Steuerpflicht, die Organisation 
der Polizeiverwaltung und der Selbstverwaltung mit Berücksichtigung der 
Eigenart der Grenzgebiete. Was endlich die Fürsorge der Duma für die 
Festigung von Gerechtigkeit und Recht in Armee und Flotte betrifft, so 
erklärt die Regierung, daß im Heere diese Grundlagen unerschütterlich 
seien und jetzt die Sorge des erlauchten Führers darauf gerichtet ist, die 
materielle Lage des Militärs zu bessern und Mittel ausfindig zu machen 
zur umfangreicheren Verwirklichung darauf hinzielender Maßnahmen. Zu 
der angeregten Aufhebung der Ausnahmegesetze und der Beseitigung der 
Willkür von Amtspersonen übergehend, findet der Ministerrat, daß sie 
völlig zum Gebiete der Staatsverwaltung gehören, auf welches der Duma 
nur das Interpellationsrecht zusteht. Außerdem bildet die Einbürgerung 
strenger Gesetzlichkeit den Gegenstand besonderer Fürsorge der Regierung, 
die nicht verfehlen wird, darauf zu achten, daß die Handlungsweise der 
Regierungsorgane beständig von gleicher Bestrebung durchdrungen sei. Nicht 
 
	        
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